Mehr als 270.000 Afghanen mussten seit Anfang des Jahres aus ihren Häusern fliehen. UNHCR, die UN-Flüchtlingsorganisation, ist alarmiert über die Situation und hat einen Notfallplan aufgestellt. Sie warnt die internationale Gemeinschaft vor einer grossen und unmittelbar drohenden humanitären Krise, für die in den kommenden Monaten noch mehr massive Vertreibungen befürchtet werden.
Erneute Gewalt in einem scheinbar endlosen Krieg
Vier Jahrzehnte Konflikt in Afghanistan haben das Land zerrissen und Millionen von Zivilisten zur Flucht gezwungen. Die afghanische Bevölkerung, die am schwerwiegendsten von diesem Konflikt betroffen ist, zahlt einen hohen Preis: Eine ganze Generation ist in Gewalt und Krieg aufgewachsen. Nur wenige Kinder konnten ihre Ausbildung fortsetzen, und die chronische Armut ist so hoch wie noch nie.
Der Abzug der US-Truppen hat die politische Landschaft des Landes aufgerührt und die Bemühungen des Friedensprozesses und die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem Leben frei von Angst vereitelt. Seit Anfang des Jahres hat die Unsicherheit im Land durch Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und afghanischen Regierungstruppen deutlich zugenommen. Die Zahl der bei Konfrontationen getöteten Zivilisten stieg im ersten Quartal 2021 um 29 %.
Im Jahr 2021 steigt die Zahl der neuen Vertriebenen sprunghaft an
In diesem Zusammenhang mussten seit Januar mehr als 270.000 Afghanen aus ihrer Heimat fliehen. Sie teilen das Schicksal von 2,9 Millionen Binnenflüchtlingen und 2,8 Millionen Flüchtlingen im Ausland. 57% der Vertriebenen sind Kinder- Kinder, die in nächster Zeit nicht zur Schule gehen werden, Kinder, deren Kindheit verloren ist.
"Wir hatten nicht einmal Zeit, unsere Sachen zu sammeln. Wir sind nur mit einer Decke geflohen", sagt Maryam*, 24, die mit ihren zwei Jungen und zwei Mädchen im vergangenen Juni aus Sholgara im Norden des Landes geflohen ist. Für sie, wie für viele andere Flüchtlinge, ist die Situation in diesem Sommer besonders schwierig: oftmals mit leeren Händen aufbrechend, müssen sie schutzlos und ohne Unterkunft einer Hitze von bis zu 45° trotzen.
*Deckname
45% der afghanischen Bevölkerung ist unterernährt
Parallel zu dieser Gewalt hat die COVID-19-Krise das Leid im Lande weiter verschlimmert. Darüber hinaus übt eine Dürre, von der bis zu 80 % des Landes betroffen ist, zusätzlichen Druck auf die Bevölkerung aus, die grösstenteils von Landwirtschaft und Viehzucht abhängig ist, was weitere grosse Vertreibungen befürchten lässt. Infolgedessen sind derzeit 45 % der afghanischen Bevölkerung mangelernährt, und die Tendenz ist steigend.
Nachbarländer am Ende ihrer Aufnahmekapazität
Der Iran und Pakistan nehmen seit Jahren grosszügig die überwiegende Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge auf, 90 % von ihnen befinden sich dort. Da sich die Situation jedoch verschlechtert, müssen diese Länder dringend unterstützt werden, damit sie die Bedürfnisse der neuen Flüchtlinge sowie der Aufnahmegemeinschaften, die unter erheblichem Druck stehen, erfüllen können.
UNHCR und seine Partner sind vor Ort und helfen sowohl den seit Jahrzehnten vertriebenen Afghaninnen und Afghanen als auch den neu Vertriebenen, sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Landes. Sie bieten Notunterkünfte, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Wasser und sanitäre Einrichtungen sowie Bargeldhilfe. Doch die Ressourcen sind knapp und der Bedarf wächst weiter. UNHCR schätzt, dass in diesem Jahr 310 Millionen Schweizer Franken benötigt werden, um die Grundbedürfnisse der afghanischen Bevölkerung zu decken, wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Unterkünfte und eine grundlegende Infrastruktur, um den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu gewährleisten. Bis heute wurden nur 44 % dieses Betrags aufgebracht.