Am 2. September 2015 wurde die Welt mit einem erschütternden Bild konfrontiert: Alan Kurdi, ein gerade einmal dreijähriger syrischer Junge, lag leblos an einem Strand in der Türkei. Dieses Foto wurde zum Symbol für die Gefahren, denen Menschen auf der Flucht ausgesetzt sind, und erschütterte die öffentliche Meinung in der Schweiz und weltweit.
Zehn Jahre später hat sich vieles verändert – doch für geflüchtete Kinder bleibt vieles gleich. Die Zahl der Menschen auf der Flucht hat sich verdoppelt und liegt heute bei über 122 Millionen, von denen rund 40 % Kinder sind.
«Alans Tod war eine Tragödie, die uns bis heute schmerzhaft daran erinnert, wie Konflikte, Gewalt und Verfolgung Kinder betreffen», sagt Amel Amir Ali, Kinderschutzbeauftragte bei UNHCR. «Seitdem haben viel zu viele Kinder ihr Leben auf gefährlichen Routen verloren – weil es schlicht keine sicheren Wege zum Schutz gibt.»
Warum Kinderschutz entscheidend ist
Für UNHCR steht der Schutz von Kindern seit jeher im Zentrum. Seit über 70 Jahren arbeitet die Organisation daran, Kinder vor Schaden zu bewahren, ihre Zukunft zu sichern und für ihre Rechte einzutreten.
«Fast die Hälfte aller Menschen auf der Flucht weltweit sind Kinder», erklärt Amir Ali. «Sie sind Risiken ausgesetzt, die ihr Leben und ihre Zukunft gefährden. Sie zu schützen, ist nicht nur ein Teil unserer Arbeit – es zieht sich durch alles, was wir tun.»
Konkret bedeutet das: Familienzusammenführungen sichern, sichere Unterkünfte und Zugang zu Bildung gewährleisten, Kinder bei Entscheidungen, die ihr Leben und ihre Zukunft betreffen, mitbestimmen lassen.
Die Gefahren für geflüchtete Kinder
Die Risiken für Kinder auf der Flucht sind enorm. Viele verlieren ihr Zuhause, ihre Schule und ihre Familie – und sind damit der Gefahr von Menschenhandel, Gewalt oder Ausbeutung ausgesetzt. Für manche wird die Reise selbst zum täglichen Überlebenskampf, geprägt von Hunger, Erschöpfung und der Angst vor dem, was kommt.
Amir Ali erinnert sich an die Geschichte eines Mädchens, das sie zu Beginn ihrer Laufbahn traf. Zunächst schien sie mit einer Verwandten unterwegs zu sein, doch bald wurde klar, dass sie in den Händen eines Schleppers war.
«Was mich am meisten beeindruckt hat, war nicht nur ihre Verletzlichkeit, sondern auch ihre Stärke», sagt Amir Ali. «Trotz allem, was sie erlitten hatte, fand sie den Mut, ihre Stimme zu erheben, wieder Vertrauen zu fassen und ihr Leben neu aufzubauen, sobald sie in Sicherheit war.»
Solche Geschichten verdeutlichen die verheerenden Risiken – Ausbeutung, Gewalt, tiefe Verluste – und zugleich die unglaubliche Widerstandskraft, die Kinder zeigen können, wenn sie nur ein Mindestmass an Schutz und Fürsorge erhalten. Ihre Resilienz gibt Hoffnung, macht aber auch klar: Kein Kind darf solche Lasten allein tragen.
Eine Krise in Zahlen
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache.
Ende 2024 waren 49 Millionen Kinder unter den weltweit 122 Millionen gewaltsam Vertriebenen – so viele wie nie zuvor.
In den letzten sechs Jahren sind über 2 Millionen Kinder als Flüchtlinge geboren worden.
2023 sind mindestens 289 Kinder beim Versuch, das zentrale Mittelmeer zu überqueren, gestorben oder verschwunden.
Hinter jeder Zahl steht ein Kind wie Alan es war, das jeden Morgen nicht in Sicherheit und Geborgenheit aufwacht, sondern in Unsicherheit – wartend auf Essen, auf Wasser oder auf Nachrichten von vermissten Angehörigen.
Programme, die Leben verändern
Trotz grosser Herausforderungen zeigt die Arbeit von UNHCR, dass konkreter Schutz möglich ist. Ein Beispiel ist die Initiative «Live, Learn & Play Safe», die in Ägypten, Äthiopien, Sudan und Jemen umgesetzt wurde. Dieses regionale Projekt stärkte die familienbasierte Betreuung, erweiterte Bildungsmöglichkeiten und unterstützte die Lebensgrundlagen von Flüchtlingsfamilien.
«Entscheidend ist der multisektorale Ansatz», erklärt Amir Ali. «Wir haben nicht nur akute Risiken bekämpft, sondern auch geholfen, sichere und stabile Zukunftsperspektiven zu schaffen. Dadurch erhielten mehr Kinder sichere Betreuung und Zugang zu Schulen.»
Die Folgen von Finanzierungsengpässen
Doch diese vielversprechenden Fortschritte sind heute durch fehlende Finanzierung ernsthaft gefährdet. 2025 benötigte UNHCR 10,6 Milliarden USD, um auf die weltweite Vertreibung zu reagieren. Bis Mai waren jedoch nur 23% der benötigten Mittel eingegangen.
Die Folgen sind dramatisch:
- Im Tschad, wohin mehr als 760'000 sudanesische Flüchtlinge – vor allem Frauen und Kinder – vor dem Konflikt geflohen sind, hatte UNHCR Anfang 2025 nur 14% der erforderlichen Mittel erhalten.
- Weltweit sind mindestens 1,1 Millionen Kinder in 23 Ländern direkt von Finanzierungslücken betroffen: Sie verlieren Zugang zu Familiennachzug, alternativer Betreuung oder Unterstützung nach sexueller Gewalt.
«Die Realität ist hart: Wenn Ressourcen sinken, steigen Gewalt, Ausbeutung und Familienzertrennung», warnt Amir Ali. « Wenn die Finanzierung wiederhergestellt wird, wissen wir genau, was wir ausweiten können. Bis dahin werden zu viele Kinder warten müssen.»
Lektionen aus Alans Geschichte
Alans Familie floh vor dem Krieg in Syrien. Sie versuchte, im Exil ein neues Leben aufzubauen, doch die Möglichkeiten waren begrenzt, und sichere legale Wege blieben unerreichbar. Schliesslich blieb ihnen nur der Versuch einer gefährlichen Überfahrt.
«Alan verlor sein Leben nicht, weil es keine Lösungen gab, sondern weil sie für ihn nicht zugänglich waren», sagt Amir Ali. «Seine Geschichte hätte anders verlaufen können, wenn es Dienstleistungen, sichere legale Wege und mehr Unterstützung für aufnehmende Länder gegeben hätte.»
Zehn Jahre später ist die Botschaft klar: Es sind keine unlösbaren Probleme, sondern kollektive Entscheidungen.
Ein Appell an die Schweiz
Für die Menschen in der Schweiz bleibt Alans Bild unvergesslich. Es mahnt uns daran, dass hinter jeder Schlagzeile ein Kind mit einem Namen, einer Familie und Träumen steht.
«Ihre Solidarität zählt», betont Amir Ali. «Die Schweizer Bevölkerung hat grosszügig und konstant unterstützt, und diese Solidarität hat Leben verändert. Doch in einer Zeit wachsender Bedürfnisse und schrumpfender Ressourcen ist kontinuierliche Unterstützung entscheidend.»
Alans Leben kann nicht zurückgebracht werden. Aber indem wir jetzt handeln, können wir sein Andenken ehren und andere Kinder davor bewahren, denselben Preis zu zahlen.