Inmitten von Konflikten gibt es immer wieder Geschichten, die von Anpassung und Durchhaltevermögen zeugen. Wir haben mit Anastasiia Sheludko gesprochen, einer 26-jährigen Ukrainerin, die vor zweieinhalb Jahren in die Schweiz geflüchtet ist. Sie wohnt jetzt im Kanton Wallis und ist Teilnehmerin bei Powercoders, einer 2017 gegründeten Schweizer Non-Profit-Organisation. Diese unterstützt Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, indem sie ihnen Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten in der Informationstechnologie ermöglicht. Powercoders bietet Coding-Bootcamps, Praktika, Mentoring und Karrierecoaching an, um den Teilnehmenden bei der Integration in den lokalen Arbeitsmarkt zu helfen. In diesem Interview erzählt Anastasiia von ihrer Flucht aus der Ukraine und ihren Erfahrungen bei der Eingliederung in die Schweizer Gesellschaft und den Arbeitsmarkt.
Anastasiia, kannst du uns erzählen, wie es war, als der Krieg begann?
Als der Krieg begann, änderte sich alles über Nacht. Die ersten 10 Tage verbrachte ich in Mykolaiv, meiner Heimatstadt, und schlief in einem Keller. Es war erschreckend - es gab Straßenkämpfe, und die Realität war schwer zu begreifen. Zuerst fühlte es sich unwirklich an, als ob sowas gar nicht passieren könnte, aber es war alles zu real.
Das klingt nach einer unglaublichen Herausforderung. Wieso hast du mit deiner Familie beschlossen, die Ukraine zu verlassen?
Mein Bruder war sehr um unsere Sicherheit besorgt. Er hat meiner Mutter und mir praktisch befohlen, zu gehen. Wir zögerten zunächst, aber seine Beharrlichkeit überzeugte uns. Wir beschlossen, zunächst nach Rumänien zu gehen, wo wir etwa eine Woche lang blieben. Wir hatten dort einige Bekannte, die uns eine vorübergehende Bleibe anboten. Es war eine kurze Verschnaufpause nach all dem, was passiert war.
Wie bist du in die Schweiz gekommen?
Nach Rumänien zogen wir mit Hilfe von Freunden der Familie, die bereits hier lebten, in die Schweiz. Ehrlich gesagt, war es mir egal, wohin wir gingen - ob nach Rumänien oder in die Schweiz. Das Ziel war einfach Sicherheit. Unsere Freunde halfen uns bei den notwendigen Formalitäten und fanden eine Gastfamilie für uns. Zu dieser Zeit waren Gastfamilien sehr verbreitet, und ich bin ihnen unglaublich dankbar für ihre Unterstützung.
Wie war es, sich an das Leben in der Schweiz anzupassen?
Es war eine Herausforderung, sowohl geistig als auch emotional. Am schwierigsten war es, die Tatsache zu akzeptieren, ein Flüchtling zu sein. Das erste Jahr war besonders schwierig, weil das Leben hier so anders ist als in der Ukraine. Jeden Tag las ich Nachrichten aus meiner Heimat, und das war ein krasser Gegensatz zu meinem Leben hier. Kurz nach meiner Ankunft schrieb ich mich als Austauschstudentin an einer örtlichen Universität ein, was mir half, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber es war trotzdem schwierig, die Gedanken an die Ukraine zu verdrängen.
Gab es noch andere Herausforderungen bei deiner Integration in die Schweizer Gesellschaft?
Auf jeden Fall. Die Sprache war ein grosses Hindernis, da ich kein Französisch spreche, und obwohl ich wegen meines Studiums und Praktikums gut Englisch konnte, war es schwierig, mit den Einheimischen Freundschaften zu schließen. Auch die kulturellen Unterschiede waren überraschend. In der Ukraine machen wir keinen Smalltalk, aber hier ist das im täglichen Miteinander völlig normal. Trotz dieser Herausforderungen habe ich die Schweizerinnen und Schweizer als unglaublich zuvorkommend und gastfreundlich erlebt. Eine örtliche Bäckerei schenkte uns zum Beispiel dreimal in der Woche übrig gebliebenes Brot. Diese Gesten der Freundlichkeit bedeuteten mir sehr viel.
Du hast an einem Coding Bootcamp mit Powercoders teilgenommen. Wie kam es dazu?
Das war ein Zufall. Ich erfuhr von Powercoders durch eine Telegram-Gruppe für ukrainische Flüchtlinge in der Schweiz. Das Programm bringt Flüchtlinge mit Unternehmen für Praktika zusammen, und es war das perfekte Timing für mich, da ich gerade mein zweites Semester an der Universität beendet hatte. Das Bootcamp vermittelte mir wertvolle Fähigkeiten und ein Praktikum, was für die Integration in den Schweizer Arbeitsmarkt entscheidend war.
Du suchst jetzt eine Festanstellung.
Powercoders hat mir definitiv geholfen, praktische Erfahrungen zu sammeln und die Arbeitskultur hier zu verstehen. Ich habe ein neunmonatiges Praktikum absolviert, aber eine Festanstellung zu finden, ist eine Herausforderung. Unsere Arbeitserlaubnis ist an den Krieg gebunden, und nicht alle Arbeitgebenden sind bereit, sich mit der Komplexität dieser Dokumente auseinanderzusetzen. Es ist ein wenig unsicher, da die Genehmigungen nicht unbefristet sind und wir bei einem plötzlichen Ende des Krieges innerhalb von sechs Monaten gehen müssten. Das macht die Arbeitsplatzsicherheit zu einem wichtigen Thema.
Welchen Rat würdest du anderen Flüchtlingen geben, die sich in einem neuen Land integrieren wollen?
Mein Rat wäre, aufgeschlossen und anpassungsfähig zu bleiben. Wir wissen nie, was das Leben für uns bereithält. Manchmal müssen wir einen Schritt zurückgehen - wer zum Beispiel in der Ukraine Arzt war, muss hier vielleicht als Pflegefachperson anfangen. Es geht darum, sein Leben neu aufzubauen und keine Angst vor einem Neuanfang zu haben. Das Wichtigste ist, motiviert zu bleiben und sich auf die kleinen Erfolge zu konzentrieren, wie z. B. das erste Gehalt zu bekommen und wieder das Gefühl der Unabhängigkeit zu haben.
Vielen Dank, dass du uns an deinem Weg teilhaben lässt, Anastasiia. Er ist ein Zeichen für die Stärke und das Durchhaltevermögen, die Menschen brauchen, um trotz vieler Widrigkeiten einen Neuanfang zu wagen. Wir wünschen dir alles Gute für deine Zukunft!