Fr., 01.10.2021 - 13:30

Im vergangenen Juni haben wir den Weltflüchtlingstag zum Anlass genommen, unsere neue Artikelserie "Flüchtlingsportraits" zu starten. Mit diesen Artikeln wollen wir Flüchtlingen eine Gelegenheit geben, über ihre Erfahrungen, ihre Reise und ihre Beziehung zur Schweiz selber zu erzählen. Für den zweiten Artikel unserer Serie haben wir Maryam Sediqi getroffen, die vor sechzehn Jahren als Flüchtling in die Schweiz gekommen ist. Sie hat uns von einigen Momenten aus ihrem Leben erzählt.

Flüchtlingsportraits : Maryam Sediqi

Maryam Sediqi und ihre Familie sind vor 16 Jahren in der Schweiz angekommen. © Maryam Sediqi
Maryam Sediqi und ihre Familie sind vor 16 Jahren in der Schweiz angekommen. © Maryam Sediqi

Maryam Sediqi, erzählen Sie uns etwas über sich.

Mein Name ist Maryam, ich komme ursprünglich aus Afghanistan, und bin 28 Jahre alt. Ich lebe seit 2005 in der Schweiz und kam mit meiner Familie - meinen Eltern und Geschwistern - als Flüchtling aus Afghanistan hierher. Ich bin Teilzeit Studentin und arbeite als Leiterin Projekt- und Partnermanagement in Zürich. Integration und Solidarität ist für mich ein wichtiges Anliegen, deshalb engagiere ich mich seit Jahren für afghanische Flüchtlinge. Ich sehe es als meine Aufgabe den Menschen eine Stimme zu geben, die sonst keine haben.

Erzählen Sie uns von Ihrer Reise bis in die Schweiz.

Um ehrlich zu sein war die Reise sehr lang. Zu lang. Wir gingen von Afghanistan in den Iran und von dort in die Türkei, dann nach Griechenland, Italien, Frankreich und schliesslich von Frankreich in die Schweiz. Wir hatten nicht die Absicht, in der Schweiz anzukommen, aber genau dorthin führte uns unsere Reise. 

Was war Ihr erster Eindruck von der Schweiz ?

Wir kamen in Bern an und wurden in ein Asylzentrum in Basel gebracht. Mein erster Eindruck oder besser gesagt meine erste Reaktion war, meine Eltern zu fragen: 

"Sind wir endlich angekommen? Müssen wir nochmal weg?"

Ich war wirklich müde von der Reise. Ich war 12 Jahre alt, aber an den meisten Orten musste ich mit allen kommunizieren und für meine Eltern übersetzen. Ich war die Einzige, die Englisch sprach, denn ich hatte es mir im Iran selbst beigebracht, als wir dort waren. Ich wollte das nicht mehr tun, meine Tage damit verbringen, von einem Ort zum anderen zu ziehen und die Mittelsperson für alles zu sein.

Ich war so froh, als ich wusste, dass wir nicht wieder wegmüssen, dass wir hierbleiben konnten. Das Reisen war kein gesunder Lebensrhythmus, und ich war so froh, als ich endlich wusste, dass ich in Sicherheit war und meine Familie auch.

Und wie ist Ihr Eindruck von der Schweiz heute?

Heute bin ich Schweizer Staatsbürgerin. Ich fühle mich zu Hause. Ich fühle mich sicher. Aber es ist schwierig, sich als Schweizerin zu definieren, wenn niemand aus der Familie von hier stammt. Aber das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist genauso wichtig wie die Staatsbürgerschaft, wenn nicht sogar wichtiger. Ich kann heute sagen, dass ich hierhergehöre, dass ich mich als Teil der Schweizer Gemeinschaft fühle.

Dies ist mein Zuhause, und ich bin dankbar dafür, dass ich hier bin, dankbar für den Einfluss, den es auf mein Leben und das meiner Familie hatte und dankbar für die Möglichkeiten, die die Schweiz uns gegeben hat.

Maryam Sediqi engagiert sich aktiv für die Anliegen Afghanistans, hier in Bern. © Maryam Sediqi
Maryam Sediqi engagiert sich aktiv für die Anliegen Afghanistans, hier in Bern. © Maryam Sediqi

Erzählen Sie uns von Ihrer Verbindung zu Afghanistan.

Die starke Bindung, die ich zu meinem Heimatland habe, wurde von meinen Eltern aufrechterhalten. Sie hörten nicht auf, über unser Heimatland zu sprechen und erzählten uns Geschichten aus der Zeit vor dem Krieg, zum Beispiel, wie das Leben damals war. Sie erinnerten uns an Orte, Bilder und Gerüche, jedoch meine Brüder und ich waren oft zu jung, um uns heute daran zu erinnern. Dennoch sind wir mit diesen Erinnerungen aufgewachsen, und sie verbinden uns auf eine sehr starke Weise mit Afghanistan.  Wir stammen aus diesem Land, und wir tragen dessen Kultur und Erbe mit uns. Das Trauma aber auch die Freuden unserer Eltern begleiten uns und motivieren uns, diese Kultur, die so abwechslungsreich ist, am Leben zu erhalten. Dies gilt insbesondere, wenn wir sie durch die Taliban oder andere Gruppen bedroht sehen. 

Es gibt viele Möglichkeiten, unsere Kultur am Leben zu erhalten, aber die wichtigste ist, sich gegenseitig als Mitglieder derselben Gemeinschaft zu unterstützen. Ich habe vielen afghanischen Frauen, sowohl in der Schweiz als auch in Afghanistan, bei rechtlichen Angelegenheiten und Fragen vertreten. Ich habe sogar meine Maturaarbeit "Die Stimme hinter dem Schleier" über die Rechte der afghanischen Frauen geschrieben. Mein eigener Hintergrund und meine Geschichte haben dieses Thema zu einem grundlegenden Bestandteil meiner Person gemacht. 

Heute sind wir dabei, zusammen mit zwei afghanischen Freundinnen, die vor 25 Jahren hierhergekommen sind, einen Verein afghanischer Frauen in der Schweiz zu gründen, die Afghan Women Association Switzerland. Ziel des Vereins ist gemeinnützige Bestrebungen zu fördern und Werke sozialer Art zu unterstützen und aufzubauen, welche direkt die afghanischen Frauen in der Schweiz und in Afghanistan helfen. So fühlen sie sich weniger allein und können sich auf ein Netzwerk von Frauen stützen, die oft ähnliche Erfahrungen durchlebt haben.

Ihrer Meinung nach, wie werden Flüchtlinge in der Schweiz gesehen?

Es gibt unterschiedliche Ansichten, Meinungen und Vorurteile. Am Anfang verstand ich nicht, warum so viele Leute Afghanistan als sicheres Land betrachteten und dachten, wir seien nur in die Schweiz gekommen, um bessere wirtschaftliche Möglichkeiten zu finden. Auch in Bezug auf die Integration gibt es viele Missverständnisse. Manche Leute denken, dass wenn wir an einem Teil unserer Identität festhalten, dies bedeutet, dass wir uns nicht in die Schweizer Gesellschaft integrieren wollen. Ich habe zum Beispiel immer meine Identität verteidigt, in meinem Fall meine Identität als eine muslimische Frau, was mich aber nie daran gehindert hat, auch Teil der Schweizer Gemeinschaft zu sein und mich zu integrieren. 

Glücklicherweise gibt es unter den Menschen auch viel Verständnis dafür, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein, und viele haben mich danach gefragt, sei es aus Neugierde oder weil sie eine andere und persönliche Meinung zu meiner Erfahrung hören wollten; eine Perspektive, die in den Berichten der Mainstream-Medien oft unterrepräsentiert ist. Sie haben oft noch nie die Stimme eines Flüchtlings gehört, ein direktes Zeugnis von jemandem, der zur Flucht gezwungen war, und das ändert oft alles.

Wie wirkt sich Ihrer Meinung nach die aktuelle Situation in Afghanistan auf die Schweizer Bevölkerung aus? 

Die derzeitige Situation der Frauen in Afghanistan macht mich traurig und wütend. Es ist wirklich schrecklich und ich bin ständig besorgt. Die Frauen in Afghanistan haben sehr hart für mehr Rechte gearbeitet und es geschafft, sie über viele Jahre hinweg zu erhalten. Jetzt aber befürchte ich wieder, dass Frauen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden und ihre Grundrechte verletzt werden. Ich hoffe, die internationale Gemeinschaft wird diesen Frauen und der afghanischen Gemeinschaft insgesamt helfen. Die meisten Menschen haben seit über zwei Monaten kein Gehalt mehr erhalten. Die Wirtschaft bricht zusammen und die Menschen haben nicht genug zu essen. Es handelt sich um eine humanitäre Katastrophe, und die Menschen brauchen dringend Unterstützung, um zu überleben.

Viele afghanische Flüchtlinge in anderen Ländern wollen dem afghanischen Volk helfen, aber es gibt derzeit keine Möglichkeit, Geld ins Land zu schicken. Deshalb ist die internationale Gemeinschaft jetzt sehr wichtig, und Solidarität mit dem afghanischen Volk ist notwendig. Für den Moment können nur die bereits vor Ort tätigen Organisationen die Bevölkerung direkt unterstützen.

In der Schweiz hat sich die Wahrnehmung dessen, was in Afghanistan passiert, ein wenig verändert, weil alle darüber reden. In den letzten 20 Jahren ist Afghanistan oft in den Medien und in Gesprächen aufgetaucht. Das Land wurde oft als eine Krise gesehen, allerdings als eine stabilisierte Krise. Jetzt, wo sich die Lage verschärft hat, scheint mir das Interesse an der Situation und am Schicksal der Menschen dort wieder erwacht zu sein. Ich erhalte viele Nachrichten von Menschen, mit denen ich schon lange nicht mehr gesprochen habe, die mich fragen, wie es mir geht und wie es meiner Familie geht usw. Viele Menschen sind nicht darüber informiert, was genau vor Ort passiert und möchten die Perspektive einer Afghanin hören. Es ist wirklich wichtig, darüber zu sprechen und das Bewusstsein in der Schweiz zu schärfen.

Wenn Sie der Schweizer Bevölkerung eine Botschaft geben könnten, was würden Sie ihnen sagen?

Flüchtlinge kommen nicht zum Vergnügen in die westlichen Länder. Sie waren in lebensbedrohlichen Situationen, und die Reise ist oft ebenso gefährlich. Wenn ein solches Risiko besteht, nicht nur für die Person selbst, sondern oft auch für ihre Familie, warum sollten sie es eingehen, wenn es nicht um Leben und Tod ginge? Es ist nicht die Gier, die die Menschen zur Flucht bewegt, sondern die Suche nach einem Ort, an dem ihre Menschenrechte geachtet werden und an dem sie in Sicherheit leben können.

Versuchen Sie zu verstehen, warum die Menschen kommen, warum sie keine andere Wahl haben. Sie sind so menschlich wie jeder von uns.