Die Ruinen des Heims
Es war ein bewegender Moment für Sayed Mohammad*, auf den er lange gewartet hatte: Nach sechs Jahren im Exil konnten der 70-jährige Vater von sechs Kindern und seine Frau endlich in ihre Heimat Marja, einer Stadt in der südlichen Provinz Helmand in Afghanistan, zurückkehren.
Mohammad war gezwungen, vor den Kämpfen zwischen den Taliban, den Koalitionstruppen und den Truppen der früheren Regierung zu fliehen, und hatte im vergangenen Sommer mit Erleichterung vom Ende des Krieges erfahren. Da er jahrelang innerhalb des Landes vertrieben war, bedeutete das Ende des Konflikts für ihn und seine Familie, dass sie endlich nach Hause zurückkehren konnten.
Die Freude über die Rückkehr in die Heimat war jedoch nur von kurzer Dauer. Die verwüstete Landschaft von Marja, dessen Bewohner fast alle verschwunden sind, da sie im Laufe des letzten Jahrzehnts vertrieben wurden, ist ein Zeugnis der prekären Situation, in der sich die Menschen des Landes heute befinden. Mohammads Haus wurde, wie die meisten Häuser in der Stadt, während der Kämpfe teilweise zerstört. Es gibt nur noch einen einzigen Raum, der von einem Dach bedeckt ist: ein einziges Zimmer, das ein wenig Schutz für den Winter bietet.
"Wir haben die Tür wieder eingebaut, aber nachts wird es eiskalt."
Die zerstörten Häuser und der harte Winter in Afghanistan zeugen zwar von den Herausforderungen, mit denen die afghanische Bevölkerung konfrontiert ist, doch sind sie leider nur die Spitze des Eisbergs.
Unterernährung und Nahrungsmittelknappheit
Nahrungsmittelknappheit und Unterernährung bedrohen das Leben von Millionen von Afghanen. Derzeit haben nur 2% der Bevölkerung ausreichend zu essen, und mehr als die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sind von akuter Unterernährung bedroht, warnt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen.
"Manchmal haben wir Gemüse, aber meistens leben wir von Brot und Tee. Alle Kinder sind hungrig,"
gesteht Mohammad. Allein in der Region Marja, in der er lebt, laufen etwa 2'000 Kinder Gefahr, an Unterernährung zu sterben. Dieses Phänomen ist in Afghanistan leider nicht neu: In Konfliktgebieten führen gestörte Versorgungsketten und die Flucht von Bauern oft zu Nahrungsmittelknappheit. Das heute erreichte Niveau ist jedoch beispiellos und die Prognosen für 2022 besorgniserregend.
Ein vom Klimawandel schwer getroffenes Land
Neben den Schrecken des Krieges und dem Trauma der Vertreibung ist Afghanistan derzeit eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder der Welt. Die südliche Provinz Helmand, in der Mohammads Familie lebt, stellt keine Ausnahme dar. In einer Region, in der ein Grossteil der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig ist, um zu überleben, wird der Wassermangel zu einer existenziellen Bedrohung.
Im vergangenen Jahr erreichten die Temperaturen in Afghanistan neue Rekordhöhen, und lange Dürren haben Ernten und Böden vernichtet. Solarpumpenanlagen ermöglichen es den Bauern, Wasser aus den Tiefen des Bodens zu schöpfen, doch diese Lösung ist sowohl zeitlich begrenzt als auch für wenige Menschen zugänglich. Wenn es schliesslich regnet, sind die Böden nicht in der Lage, die Wassermassen aufzunehmen. Die heftigen Regenfälle erodieren die Böden und lösen Erdrutsche aus, die ganze Häuser mit sich reissen.
Nachdem sie endlich in ihre Häuser zurückkehren konnten, befürchten ehemalige Binnenvertriebene wie Mohammad, dass ihr Land aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels unbewohnbar werden könnte. Ein anderer Bewohner von Marja bezeugt:
"Wenn die Wasserquellen endgültig versiegen, müssen wir in den Iran oder nach Pakistan gehen. Sonst begnügen wir uns damit, unsere eigenen Gräber zu graben."
Marja und Helmand sind nur ein Teil der Tragödie, die heute das ganze Land bedroht: Nach jahrzehntelangem Krieg, der die Bevölkerung zur Flucht zwang, sind die Afghanen erneut gezwungen, ins Exil zu gehen. Sie fliehen nicht mehr vor dem Krieg, sondern vor den kombinierten Auswirkungen des Klimawandels und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs.
Wie Mohammad Sadiqi, stellvertretender Verbindungsoffizier für die UN-Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, UNHCR, in Helmand, bitter feststellt:
"Alle unsere Jugendlichen gehen weg, was sollen sie auch sonst tun?"
Ein beispielloser gemeinsamer Hilfsplan der Vereinten Nationen
Angesichts der verzweifelten Lage und Aussichten der afghanischen Bevölkerung haben die Vereinten Nationen und Nichtregierungsorganisationen einen gemeinsamen Interventionsplan ins Leben gerufen, um 22 Millionen Menschen in Afghanistan humanitäre Hilfe zukommen zu lassen und die 5,7 Millionen vertriebenen Afghanen in den Nachbarländern zu unterstützen. Der am 11. Januar gestarteter humanitäre Interventionsplan erfordert eine Finanzierung von mehr als 4,6 Milliarden Schweizer Franken.
Mit diesem massiven humanitären Hilfsplan sollen die grössten und unmittelbarsten Bedrohungen für das afghanische Volk bekämpft werden: Ernährungsunsicherheit, Unterernährung und die Erosion der Lebensgrundlagen. Eine koordinierte Reaktion ist die angemessenste Lösung, um einer Bevölkerung, die bereits zu viel ertragen hat und nun am Rande des Zusammenbruchs steht, lebensrettende Hilfe zukommen zu lassen. Die Solidarität der internationalen Gemeinschaft ist heute wichtiger denn je, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.
*Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.