Mi., 22.11.2023 - 08:42

Karolina Lindholm Billing ist Vertreterin von UNHCR in der Ukraine. Sie begann ihren Einsatz dort vor 2,5 Jahren - nicht ahnend, dass die Situation so eskalieren würde wie im letzten Jahr. Jetzt stehen die Menschen in der Ukraine vor einem weiteren Winter. Die kalten Temperaturen werden eine grosse Herausforderung sein: Viele Ukrainer haben kein Dach mehr über dem Kopf. Sie brauchen dringend Ihre Hilfe, wie Karolina Lindholm im Interview erklärt. 

Karolina, du hast jetzt zwei Winter in der Ukraine verbracht. Was ist dein Eindruck? 

Karolina Lindholm Billing: Nun, die Winter in der Ukraine sind normalerweise sehr kalt und die Temperaturen können bis auf minus 20 oder 25 Grad sinken. Viele sagen, der letzte Winter war recht mild, und das stimmt auch. Aber im östlichen Teil der Ukraine, wo die Auswirkungen des Krieges am stärksten sind, herrschten immer noch minus 10, manchmal sogar bis zu minus 15 Grad. Und wenn man kein Dach hat, wenn man keine Fenster in seinem Haus hat, dann ist das immer noch eiskalt. Viele Menschen mussten sogar ohne Strom leben, weil Russland gezielt die Energieinfrastruktur angegriffen hat. 

Ist die Stromversorgung in den meisten Orten wiederhergestellt worden?  

KLB: Die ukrainischen Behörden waren äusserst effizient bei der Reparatur und Wiederherstellung der Stromversorgung, sie erhielten viel Hilfe der internationalen Gemeinschaft und ihrer Partner. Jetzt wird die Stromversorgung regelmässig wiederhergestellt, ausser in den Gemeinden an der Front, die immer noch unter Beschuss stehen. Viele von uns erwarten und befürchten jedoch, dass die Angriffe auf die Energiequellen in diesem Winter wieder systematischer werden. 

UNHCR hat im vergangenen Winter eine Reihe von Generatoren an verschiedene Gemeinden geliefert. Kannst du uns eine Vorstellung davon geben, wie wichtig dieser Einsatz war?  

KLB: Im Rahmen der Winterhilfe von UNHCR haben wir insgesamt über 1,5 Millionen Menschen auf unterschiedliche Weise unterstützt. Dazu gehörte Bargeld, um den Menschen zu helfen, die zusätzlichen Kosten für die Versorgung und Heizung in ihren Häusern zu decken. Dazu gehörten Festbrennstofföfen und Wärmedecken. Eines der wichtigsten Projekte war die Instandsetzung und Isolierung von Häusern, damit die Menschen in ihrem eigenen Zuhause warm bleiben konnten. Und eine besondere Massnahme waren Generatoren. Wir stellten mehr als 150 Generatoren für so genannte Unbesiegbarkeitsstellen zur Verfügung, die von der ukrainischen Regierung und den lokalen Behörden an rund 5'000 Orten in der Ukraine eingerichtet worden waren: Menschen, die in ihren eigenen Häusern keinen Zugang zu Strom und Heizung hatten, konnten dorthin kommen, sich aufwärmen, etwas Warmes trinken und essen, ihre Telefone aufladen, ihre Liebsten anrufen und sich in der Gemeinschaft verbunden fühlen. 

Und was sind eure Prioritäten für diesen Winter?  

KLB: Unsere Priorität ist die Unterstützung der Menschen, die in den Frontgebieten im Osten und Süden des Landes leben, wo die Kämpfe am heftigsten sind. Dazu gehören die Unterstützung mit Bargeld, Reparaturen und Isolierung von Häusern sowie einige Hilfsgüter. Wir haben auch ein Kontingent für Generatoren, falls diese dieses Jahr benötigt werden.

Habt ihr aus dem letzten Jahr irgendwelche Lehren gezogen?  

KLB: Wir haben unter anderem gelernt, dass die Menschen in der Regel Bargeldunterstützung den Hilfsgütern vorziehen, vor allem diejenigen, die dort leben, wo die Märkte noch voll funktionieren. Denn wenn man Bargeld erhält, kann man sich aussuchen, ob man eine Decke, eine Solarlampe oder eine Thermoskanne braucht. Denn die Bedürfnisse jeder Person und jeder Familie sind unterschiedlich. Deshalb werden wir in diesem Jahr die Bargeldhilfe erhöhen und die Zielvorgabe für die bereits bereitgestellten Artikel senken.  

Gehen wir zurück zum 24. Februar 2022. Kannst du dich erinnern, wie du erfahren hast, dass der Krieg begonnen hat?  

KLB: Ja. Um 5:15 Uhr oder so wurde ich durch einen Anruf unserer Sicherheitsberaterin Nika geweckt. Und ich werde diesen Anruf nie vergessen. Sie sagte: "Hallo, guten Morgen. Ich bin's, Nika. Das ist ein Anruf, den ich hoffte, nie machen zu müssen. Sie haben angefangen." Und dann hörte ich, auch ohne die Fenster zu öffnen, die Explosionen. Ich wohnte im Zentrum von Kyiv, und ich glaube, es war wirklich ein Schockgefühl, aber gleichzeitig ist man dann auch sehr konzentriert. Wir fingen an zu arbeiten und versuchten herauszufinden, was eigentlich im ganzen Land passiert war. 

Wie oft hast du die Gelegenheit, Kollegen vor Ort zu besuchen und mit Binnenvertriebenen zusammenzutreffen?   

KLB: Ich mache das sehr oft, mindestens jede zweite Woche. Ich fahre vor Ort, denn für mich ist es wichtig, dass ich direkt mit den Menschen, denen wir dienen, zusammenkomme und mir die Gemeinden ansehe, in denen sie leben, damit ich meine Arbeit gut machen kann. Ich treffe mich mit den Bürgermeistern und Gouverneuren vor Ort, und ich treffe mich jeden Tag mit unseren Kolleginnen und Kollegen, die dort vor Ort arbeiten, so dass ich wirklich aus eigener Erfahrung berichten kann, wie sich der Krieg auf die Menschen auswirkt. Und wie unsere Programme direkt dazu beitragen, den humanitären Bedarf zu decken und den Menschen zu helfen, sich von den Schrecken des Krieges zu erholen.  

Was würdest du sagen sind die schwierigsten und lohnendsten Aspekte deiner Arbeit?  

KLB: Ich würde sagen, dass der schwierigste Aspekt meiner Arbeit darin besteht, zu entscheiden, wann das Risiko für unsere Mitarbeitenden und auch für mich selbst zu hoch ist, um ein Gebiet nahe der Frontlinie zu besuchen. Wenn das Risiko extrem hoch, aber noch akzeptabel ist, gehen wir es ein, um die Menschen, die unsere Hilfe benötigen, zu erreichen. 

Das Schönste an meiner Arbeit sind die Begegnungen mit den Menschen, die wir unterstützt haben. Wenn ich also eine Familie treffe, deren Haus vielleicht beschädigt oder zerstört wurde und die nun ihr Dach oder ihre Fenster repariert hat. Und alle Mitglieder haben psychosoziale Unterstützung erhalten, um sich von dem Trauma zu erholen, das sie erlebt und miterlebt haben. 

Kannst du uns deine Eindrücke davon schildern, wie die Menschen mental mit ihrer Situation zurechtkommen? 

KLB: Der Gesamteindruck, den ich bekomme, ist der von Wut und Verzweiflung über die Verluste, die sie erlebt haben. Viele haben geliebte Menschen verloren oder wurden verletzt und haben nun eine Prothese oder kein Augenlicht mehr und so weiter. 

Aber gleichzeitig sehe ich eine unglaubliche Stärke, Entschlossenheit und Widerstandsfähigkeit, die wirklich bemerkenswert ist. Ich gebe ein Beispiel: Als ich vor kurzem in Saporischschja war, traf ich eine Frau, Raisa, 88 Jahre alt. Sie hatte in dem Wohnhaus im Zentrum gewohnt, das Anfang März dieses Jahres von einer Rakete angegriffen worden war. Rettungskräfte des staatlichen Katastrophenschutzes hatten sie aus den Trümmern gezogen und gerettet. Sie lebt jetzt in einer Sammelunterkunft in Saporischschja, wo UNHCR und unsere Partner die Bewohner unterstützen. Sie sagte: "Was ich am Leib trage, ist alles, was ich noch habe. Mein ganzes Leben, meine ganze Wohnung, alles, was ich besass, ist zerstört." Aber gleichzeitig lächelte sie und sagte: "Ich werde eines Tages dorthin zurückkehren. Ich werde nicht aufgeben." Diese Kombination meine ich.  

Hast du eine Botschaft an alle, die Geld für die Arbeit von UNHCR in der Ukraine gespendet haben? Was kannst du sagen, was sie damit bewirken?   

KLB: Ich möchte jedem Einzelnen, der die Arbeit von UNHCR in den letzten anderthalb Jahren in der Ukraine unterstützt hat, herzlich danken. Und Ihnen versichern, dass die Ressourcen, das Geld, das Sie bereitgestellt haben, den Menschen geholfen hat. Es hat die Menschen erreicht. Und ich kann sagen, dass wir jeden Tag sehen, wie die bereitgestellten Mittel für Programme verwendet werden, die kostenlose Rechtshilfe anbieten, um den Menschen zu helfen, ihre verlorenen Dokumente, ihre Ausweispapiere, ihre Geburtsurkunden, Sterbeurkunden wiederzubekommen oder ein neues Dach über dem Kopf oder neue Fenster in ihrer Wohnung zu erhalten. Sie helfen den Menschen direkt, sich zu erholen und sich in ihren eigenen vier Wänden geschützt, würdig und sicher zu fühlen.   

Im Jahr 2022 haben wir mehr als 4,3 Millionen Menschen durch unsere Schutz- und Unterkunftsprogramme sowie durch Geld- und Sachleistungen unterstützt. Im Jahr 2023 haben wir mit diesen verschiedenen Programmen bisher mehr als 2.35 Millionen Menschen erreicht, und die Arbeit geht jeden Tag weiter.