Do., 11.11.2021 - 11:00

Eines der Ziele der Gründung der Schweizer Stiftung für das UNHCR, Switzerland for UNHCR, ist es, in der Schweiz das Bewusstsein für die Notlage entwurzelter Menschen zu schärfen. Die Stiftung feierte vor einigen Monaten ihr einjähriges Jubiläum, und obwohl es wenig zu feiern gab, ist eine Möglichkeit, diesen Anlass zu begehen, der Start einer Artikelserie, in der lokale Akteure vorgestellt werden, die sich für Flüchtlinge einsetzen: Die Engagierten. Für unseren siebten Artikel haben wir uns mit Christina Gräni, Public Relations Managerin bei Powercoders, getroffen. Powercoders ist ein Verein, der Flüchtlinge in der Schweiz im Bereich Informatik und Informationstechnologie ausbildet, um ihnen die Integration in den Arbeitsmarkt zu erleichtern.

Unsere Stiftung hatte das Glück, eine ihrer Praktikantinnen aus ihrem Ausbildungszyklus zu Beginn des Jahres zu empfangen, so dass wir einen Platz in der ersten Reihe hatten, um die grossartige Arbeit und die Qualität des von Powercoders angebotenen Lehrprogramms zu würdigen. Unsere ehemalige Praktikantin hat nun eine Vollzeitstelle in einem internationalen Unternehmen im Bereich der digitalen Kommunikation erhalten.

Powercoders

Stellen Sie uns Powercoders vor: 

Christina Gräni: Powercoders ist eine gemeinnützige Organisation, deren Ziel es ist, Flüchtlinge und Migranten in den Schweizer Arbeitsmarkt zu integrieren, und zwar in einem sehr spezifischen Bereich: dem der Informatik und Informationstechnologien.

Was ist ihr Ansatz? 

CG: Unser Programm besteht aus vier Phasen :

Zunächst geht es um die Rekrutierung, ein Schritt, der viel Zeit in Anspruch nimmt. Der IT-Bereich ist so spezifisch, dass es wichtig ist, geeignete Profile zu rekrutieren. Wir suchen Menschen, die analytisch und abstrakt denken und die eine Affinität zum Technologiebereich haben. Deshalb nehmen wir uns die Zeit, die Personen zu identifizieren, in denen wir das Potenzial sehen, in diesem Bereich Fuss zu fassen. Unser Angebot steht allen Flüchtlingen in der Schweiz offen, aber einige Plätze sind auch für Migranten reserviert, dessen legaler Status nicht derselbe ist, aber dessen Eingliederung in den Arbeitsmarkt gleichsowichtig ist. Leider kann unser Programm Menschen, die sich gerade in einem laufenden Asylverfahren befinden, nicht einschliessen, denn da wir eine Beschäftigung anstreben, ist es wichtig, dass unsere Begünstigten eine Arbeitserlaubnis haben.
 
Die nach dieser ersten Phase ausgewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, 40 Personen, haben dann Zugang zum Bootcamp. Ein 3-monatiger Intensivkurs, in dem die Teilnehmer je nach ihrem Fortschritt notwendige Fähigkeiten konsolidieren. Die Niveaus sind auch sehr unterschiedlich; einige haben in ihrem Heimatland bereits im IT-Bereich gearbeitet und sind damit sehr vertraut. Andere sind Anfänger, die aber begierig sind, mehr zu lernen. Am Ende entsteht immer eine Dynamik der Zusammenhilfe, und man sieht, wie sich alle gegenseitig motivieren.

Das Praktikum, das 6 bis 12 Monate dauert, ist die dritte Phase unseres Programms. Jeder Teilnehmer sieht sich einem Powercoders-Jobcoach zugewiesen, ein Freiwilliger mit guten Kenntnissen des Schweizer Markts, der ihn begleitet, und als Bindeglied zwischen Powercoders und dem Unternehmen dient.

Die Integration ist das oberste Ziel dieses Programms. Nach dem Praktikum prüfen wir gemeinsam mit dem Unternehmen die Möglichkeit für die Praktikanten, einen festen Arbeitsplatz zu bekommen. Manchmal beginnen sie mit einem Junior-Job, oder werden je nach Alter als Auszubildende übernommen. Wenn die Teilnehmer vom Unternehmen nicht übernommen werden, kommen sie zu uns zurück, und wir unterstützen und begleiten sie bei der Suche nach anderen Beschäftigungsmöglichkeiten im IT-Bereich. Keiner wird auf dem Weg zurückgelassen! 

Das Bootcamp ist eine intensive und reichhaltige Erfahrung für die Teilnehmer. ©Powercoders
Das Bootcamp ist eine intensive und reichhaltige Erfahrung für die Teilnehmer. ©Powercoders

Wie gehen Sie auf Ihre Partner zu? Wer sind diese? 

CG:
Das Programm läuft nun schon seit 5 Jahren. Es stimmt, dass wir anfangs Schwierigkeiten hatten, Unternehmen zu finden. Es gab einige, aber die Nachfrage war grösser als das Angebot. Mit der Zeit und den positiven Ergebnissen der ersten Teilnehmergruppehaben die Unternehmen erkannt, dass sich unser Programm lohnt. Durch die Weiterempfehlungen war es einfacher, neue Partner zu finden. Von der Grösse her reichen diese von Start-ups bis zu grossen multinationalen Unternehmen; einige können unseren Teilnehmern 3 oder sogar 4 Praktikumsplätze anbieten, andere kleinere, nur einen.

Diese Unternehmen nehmen vor allem deshalb teil, weil sie eine Erneuerung der Talente brauchen, insbesondere in diesem Bereich, in dem es in einer Zeit, in der unser Leben immer digitaler wird, an Fachkräften mangelt. Der andere Grund ist der soziale Beitrag. Viele Unternehmen wollen mehr dafür tun: sie wollen sich auf eine andere Art und Weise engagieren. Es handelt sich nicht nur um einen wichtigen Akt zugunsten von Flüchtlingen, denn letztere bringen nicht nur viel Motivation und Know-how mit, sondern auch ganz viele Erfahrungen, die über die eigentliche Arbeit hinausgehen und diese Praktikantinnen und Praktikanten sind eine echte Bereicherung für das Unternehmen und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 

Warum engagieren Sie sich?

CG:
Weil ich denke, dass es eine sehr konkrete Art ist, zur Lösung eines Problems beizutragen!

Ich persönlich habe vor Powercoders in einem ganz anderen Bereich gearbeitet. Ich war in der Welt des Designs, der Grafik. Eines Tages setzte ich mich hin und nahm mir die Zeit, um darüber nachzudenken, und ich änderte meinen beruflichen Werdegang komplett. Ich wollte mich auf Flüchtlinge konzentrieren, weil ich sehen konnte, dass es sich um sehr schutzbedürftige Menschen in der Schweiz handelt, denen wirklich konkret geholfen werden kann und deren Alltag verbessert werden kann. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist dabei etwas sehr effektives, die soziale Integration erfolgt in der Regel ganz natürlich, wenn man jemandem die Möglichkeit gibt, zu arbeiten! Ich habe mich also sofort in dem Powercoders-Projekt wiedererkannt.

Jeder und jede in unserem Team hat eine Geschichte. Die Flüchtlinge bringen so viele Erfahrungen mit, dass es uns alle wirklich motiviert, alles zu geben. 

Was sind ihre zukünftigen Projekte? 

CG: 
Letztes Jahr haben wir ein Pilotprojekt durchgeführt, das jetzt zu unserem zweiten festen Programm wird. Dieses Programm heisst "Futurecoders" und richtet sich an Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren und bietet ihnen Kurse in Programmierung, Web-Entwicklung und Web-Design an. Wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, diesen Bereich zu entdecken, ihre Neugierde zu wecken und ihre Chancen für ihr späteres Berufsleben zu erhöhen, in dem digitale Fähigkeiten entscheidend sein werden. Dieses Programm richtet sich erneut an Flüchtlings- und Migrantenfamilien in der Schweiz, und das Pilotprojekt stiess auf grosses Interesse bei ihnen. Heute ist das Programm komplett finanziert und kristallisiert sich somit in unserem Angebotskatalog heraus.

Da wir nur 40 von den rund 400 eingeschriebenen Bewerbern pro Jahr aufnehmen können, möchten wir dieses Angebot ausweiten und es auch denjenigen zugänglich machen, die nicht die gleichen Digitalen Fachkenntnisse haben.

Die "Remotecoders" ist ein anderes Projekt das immer mehr Gestalt annimmt. Dabei arbeiten wir mit lokalen Organisationen im Nahen Osten zusammen, die Flüchtlinge mit technischem Potenzial rekrutieren, die aber nicht in die Schweiz kommen können. Unsere Partner bieten ihnen vor Ort Kurse an, und wir koordinieren uns mit Schweizer Unternehmen, um ihnen Fernpraktika zu ermöglichen. Wir befinden uns noch in der Pilotphase, aber hoffentlich wird dies unser vierter Weg werden.  

 Das Programm von Powercoders hat einen besonderen Zweck: die Einstellung der Teilnehmer zu fördern. ©Powercoders
Das Programm von Powercoders hat einen besonderen Zweck: die Einstellung der Teilnehmer zu fördern. ©Powercoders

Eine besondere Erinnerung? 

CG: 
Wenn einer unserer Teilnehmer seinen ersten unbefristeten Arbeitsvertrag erhält, ist das ein wahrhaft magischer Moment. Die Reaktionen sind all die Mühe wert, die wir in diese Arbeit stecken, viele weinen vor Freude, andere können sie nicht verbergen. Die Emotionen sind jedes Mal sehr stark: alle bezeugen, wie tiefgreifend sich die Situation für sie und ihre Familien verändert hat. Für viele von ihnen bedeutet dies die Unabhängigkeit von der Sozialhilfe, was oft ihr erster Wunsch ist. Das sind sehr berührende Momente. 

Ich bin immer wieder beeindruckt von unseren Teilnehmern. Ihre Entschlossenheit ist wirklich inspirierend. Sie wollen um jeden Preis erfolgreich sein und nehmen viel auf sich. Jedes Mal, wenn ich das im Alltag erlebe, berührt mich das sehr. Ich versuche, dieses Engagement auch an die Unternehmen weiterzugeben. Sie wissen, dass es sich um eine langfristige Investition handelt, und dass diese Menschen hoch motiviert sind und dem Unternehmen viel zurückgeben.

Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die sich engagieren wollen, aber nicht wissen, wie? 

CG:
Powercoders verfügt über ein grosses Netzwerk von Freiwilligen, Job-Coaches und IT-Fachleuten - wir wissen, dass wir den Erfolg unseres Programms weitgehend ihnen verdanken!  Ohne ihren Beitrag wäre nichts möglich gewesen. 

In Nullkommanichts finden Sie im Internet viele Möglichkeiten, sich in Ihrer Nähe zu engagieren. Es gibt keinen Mangel an Initiativen und Projekten! Es geht auch nicht darum, seine gesamte Zeit der Freiwilligenarbeit zu widmen, aber stellen Sie sich vor, jeder und jede würde eine Stunde pro Monat freiwillig arbeiten... Das Ergebnis wäre enorm!  

Viele Menschen engagieren sich in ihrer Familie, in ihrem Fussballverein, in der Schule - das sind alles sehr wichtige Dinge. Aber ich würde mir wünschen, dass sich mehr Leute für Menschen engagieren, die in grosser Not sind, wie Flüchtlinge.  

Viele Menschen haben Angst, es gibt immer noch eine Barriere zwischen Vertrautem und Unvertrautem, und es fällt ihnen manchmal schwer, den Schritt zu wagen. Die Schweiz hat bereits eine hohe Quote an Freiwilligenarbeit, aber ich denke, wir können noch besser werden!