8,5 Millionen Menschen sind seit dem Ausbruch des Konflikts im Sudan am 15. April 2023 vertrieben worden. Das ist fast die gesamte Schweizer Bevölkerung. Die meisten Menschen mussten sich innerhalb des Landes einen neuen, sicheren Ort suchen, aber 1,8 Millionen sind auch in die Nachbarländer geflüchtet. UNHCR ist vor Ort, um all diesen Flüchtlingen und Vertriebenen zu helfen. Aber die Ressourcen sind sehr knapp und die Teams müssen schwierige Entscheidungen treffen...
Dr. Mamadou Dian Balde ist UNHCR-Regionaldirektor für den Osten, das Horn von Afrika und die Großen Seen sowie regionaler Flüchtlingskoordinator für die Situation im Sudan. Er hat unsere Fragen beantwortet.
Mamadou, warst du kürzlich im Sudan?
Seit Beginn dieses Konflikts war ich zweimal im Sudan. Ende August war ich im Osten, in Kassala, dann in Gedaref, wo viele äthiopische und eritreische Flüchtlinge versammelt sind, sowie die Menschen, die aus Khartoum flüchten mussten. Ich fuhr nach Wad Madani, das drei Stunden von Khartum entfernt liegt und wo sich viele Sudanesinnen und Sudanesen aufhalten, die mehrfach vertrieben wurden, hauptsächlich aus Khartoum. Die Einwohnerzahl von Wad Madani hat sich verdoppelt. Ich folgte den Flüchtlingen dann nach Kosti, auf dem Weg in den Südsudan. Kosti beherbergt eine grosse Anzahl von Flüchtlingen aus dem Südsudan. Dann traf ich den Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, in der Region Weißer Nil.
Vor kurzem, im Februar, reiste ich zusammen mit dem Hochkommissar erneut in den Sudan. Wir begannen in Äthiopien und fuhren an die Grenze zum Sudan, in die Region Blauer Nil. Dort trafen wir Flüchtlinge, die von den Konflikten betroffen sind, darunter Syrer, Äthiopier, Eritreer und Sudanesen. Sie wurden bereits drei- bis viermal aus Khartum vertrieben und machen sich große Sorgen um die Zukunft.
Ich habe ausserdem vor mehr als 20 Jahren als Schutzbeauftragter im Sudan gearbeitet. Ich habe die Sudanesinnen und Sudanesen als sehr stolze und grosszügige Menschen in Erinnerung, die geben und geben. Und nun ist es herzzerreißend für mich, ein Land zu sehen, in dem sie sich selbst als bedürftige Menschen wiederfinden und dies nicht einmal offen sagen, weil sie lieber alle Herausforderungen für sich behalten.
Wie ist die aktuelle Situation der Vertriebenen?
Der Sudan beherbergte bereits vor dem Konflikt über 1 Million Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, dem Südsudan und der Zentralafrikanischen Republik. Diese Flüchtlinge wurden nun zwei-, drei- oder viermal innerhalb des Sudans vertrieben, andere sind in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Diejenigen, die sich im Sudan befinden, benötigen grosse Unterstützung in Bezug auf Logistik, Nahrungsmittel und Schutz.
Ich habe zum Beispiel im August diesen Schneider getroffen, der ein Geschäft in Khartoum hatte. Er war seit mehr als drei Jahrzehnten im Sudan und hatte sein eigenes Geschäft aufgebaut. Er kümmerte sich um seine beiden Töchter - aber nach dem Konflikt fand er sich in den Aussenbezirken von Wad Madani wieder, drei Stunden von Khartoum entfernt, mit absolut nichts. Ich traf auch einen ehemaligen Ingenieur, der ursprünglich aus Darfur stammte und im Ruhestand war. Er hatte es geschafft, sich ein schönes Leben aufzubauen, er hatte ein Haus für seine Familie in Khartoum. Alles ist zerstört worden. Er fand sich mit seinen Kindern und Enkelkindern in einer Zweizimmerwohnung wieder, die über 1.000 USD kostet.
Während meines Aufenthalts in Kassala lernte ich eine junge Medizinstudentin aus Khartoum in einer der Sammelstellen für vertriebene Familien kennen. Auch hier bricht es mir das Herz, weil sie ihr Studium nicht mehr fortsetzen kann und nicht weiss, was sie tun soll. Unser Team unterstützt sie und übernimmt die Kosten für ihre Abschlussprüfungen in diesem Jahr, aber wie wird es im nächsten Jahr weitergehen? Das sind die Geschichten, die wir im Sudan hören. Fast alle sudanesischen Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Sie haben bereits ein Schuljahr verloren, und die Chance ist gross, dass sie ein weiteres verlieren werden.
Dazu sind da die 1,8 Millionen Menschen, die den Sudan verlassen haben. Sie befinden sich im Tschad, wo in vielen Gebieten die Zahl der Flüchtlinge größer ist als die der Bevölkerung in den Aufnahmegemeinden. Sie kommen zu den Menschen hinzu, die vor 20 Jahren nach der ersten Krise in Darfur geflüchtet sind. Die Lage im Tschad ist sehr schwierig: Viele sind Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt, viele haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung oder anderen Diensten, weil es an finanziellen Mitteln fehlt. In Ägypten sind Tausende von Flüchtlingen in städtischen Gebieten untergebracht, und die Dienste sind überlastet, auch wenn die ägyptischen Behörden ihr Bestes tun, um zu helfen. Wir unterstützen dort die Bedürftigsten mit Bargeldhilfe. Hunderttausende von Menschen sind in den Südsudan gereist - mehr als 600.000, die sowohl als Südsudanesen an einen Ort zurückkehren, den sie nie gekannt haben, nachdem sie jahrzehntelang im Sudan gelebt haben, als auch andere Flüchtlinge. Weitere sind nach Äthiopien und in die Zentralafrikanische Republik geflüchtet.
Wie genau kann UNHCR all diesen Menschen helfen?
UNHCR ist trotz der Krise vor Ort geblieben und hat seine Aufgaben erfüllt. Die Teams haben den Sudan und seine Nachbarländer nie verlassen und werden sie auch nie verlassen. Das war die Zusicherung, die der Hochkommissar allen unseren Partnern gegeben hat: "Wir werden bleiben, wir werden Schutz und Hilfe bieten, trotz aller Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen."
Neben der direkten Unterstützung setzt sich UNHCR für den Abbau bürokratischer Hindernisse ein, damit wir so viele Menschen wie möglich erreichen können. Wir setzen uns für Frieden und Waffenstillstand ein, damit die Menschen nach Hause zurückkehren können. Wir setzen uns auch außerhalb des Sudans dafür ein, dass andere Länder ihre Grenzen offen halten. Kürzlich war ich in Uganda, wo inzwischen 30,000 Menschen aus dem Sudan Schutz gefunden haben. Uganda ist angesichts des anhaltenden Konflikts ein neues Aufnahmeland für sudanesische Flüchtlinge.
In der Schweiz berichten die Medien nicht viel über den Sudan. Die Schweizerinnen und Schweizer wissen nicht viel über die Situation. Was würdest du ihnen gerne sagen, damit sie verstehen, warum ihre Hilfe so wichtig ist?
Die Schweiz ist sich der Tatsache nicht bewusst, dass der Sudan mehrere Tausend eritreische Flüchtlinge aufgenommen hat. Aber die Schweizerinnen und Schweizer wissen wahrscheinlich, dass Eritrea das Herkunftsland mit den meisten anerkannten Flüchtlingen in der Schweiz ist. Indem sie den Sudan unterstützen, unterstützen sie also auch die eritreischen Flüchtlinge. Der Sudan ist von zentraler Bedeutung für die Stabilität in der Region. Und die Schweiz spielt eine zentrale Rolle bei der Aufklärung der Menschen über die Flüchtlingsproblematik. Sie war Gastgeberin des Globalen Flüchtlingsforums. Das sollten wir nicht vergessen.
Ich habe über den Schneider und den Ingenieur gesprochen. Es ist die gesamte Gesellschaft, die vertrieben worden ist. Sie wollen dasselbe wie die Menschen in der Schweiz: Sie wollen ihre Arbeit machen, sie wollen ihre Familien ernähren. Sie sind genau wie wir, nur dass sie jetzt mit einer Situation konfrontiert sind, die sie nicht gewollt haben. Sie wurden in den Konflikt hineingezogen und versuchen nun, sich zurecht zu finden und das Beste für ihre Familien zu tun.
Wo muss UNHCR Abstriche machen, weil die Mittel fehlen? Was bedeutet das in der Praxis?
Im Südsudan an der Grenze zum Sudan stehen wir vor der Herausforderung, die Flüchtlinge in sichere Gebiete umzusiedeln. Im Tschad ist die Lage noch schlimmer: Tausende von Menschen können nicht an einen sicheren Ort umgesiedelt werden, wo sie in einer dauerhaften Unterkunft, einem Zelt, leben können oder ausreichend Zugang zu Wasser und Nahrung haben. Ein weiterer Punkt sind die Schutzmassnahmen. Es geht darum, dass die Menschen ein Mindestmaß an Dienstleistungen erhalten, damit sie nicht zu riskantem Verhalten verleitet werden, um für ihre Familie sorgen zu können. Und wenn wir den Menschen diesen Mindestschutz nicht bieten können, ist das eine grosse Bedrohung.
Mamadou, du hast viele traurige Dinge erlebt. Was treibt dich persönlich an?
Die Tatsache, dass wir im Leben der Menschen etwas bewirken, auch wenn unsere finanziellen und personellen Kapazitäten begrenzt sind. Wenn ich vor Ort mit Lehrerinnen, Studenten und ehemaligen Beamtinnen spreche, kann ich sehen, was wir bewirken. Das spornt mich an. Der Frustrationsgrad ist natürlich extrem hoch, die finanziellen Mittel kommen nicht so, wie sie sollten, aber wir sehen die Solidarität und all die guten Dinge, die wir tun können. Das lässt uns hoffnungsvoll bleiben und die Herausforderungen angehen.
Wie fühlt sich das Personal in dieser Situation?
Ich glaube, der Mehrwert, den sie schaffen, macht sie stolz. Sie sind in der Lage, das Leben der Menschen zu verändern. Aber ich weiss auch, dass sie Angst haben. Sie geben sich so viel Mühe bei ihrer Arbeit. Diese Situation zwingt sie auch dazu, wirklich schwierige Entscheidungen zu treffen: Wem soll ich nicht helfen? Was soll ich nicht tun? Das ist für uns alle sehr schwierig. Deshalb brauchen wir regelmässige Spendende, damit wir planen und die Ängste unserer Mitarbeitenden verringern können.
Vielen Dank, Mamadou.
Auch Sie können etwas für die Menschen tun, die durch den Konflikt im Sudan vertrieben worden sind. Dank Ihrer Spende kann UNHCR diese Menschen unterstützen und ihnen Hoffnung für die Zukunft geben.
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