Mi., 02.02.2022 - 12:30

Anlässlich des Weltflüchtlingstages im Juni 2021 haben wir eine neue Artikelserie gestartet: " Flüchtlingsportraits". Mit diesen Artikeln wollen wir Flüchtlingen eine Stimme geben, damit sie uns von ihren Erfahrungen, ihrer Reise und ihrer Beziehung zur Schweiz erzählen können. Für den dritten Artikel unserer Serie haben wir Ana Maria Angarita getroffen, die im Jahr 2001 von Kolumbien in die USA flüchtete. 2009 kam sie nach Genf, um ihre Karriere in der internationalen Zusammenarbeit fortzusetzen. Ein paar Jahre später zog sie nach Zürich, wo sie 2017 Mitbegründerin des gemeinnützigen Vereins Capacity wurde, einem Talent- und Startup-Inkubator für Menschen mit Flüchtlings- oder Migrationshintergrund.

Flüchtlingsportraits : Ana Maria Angarita

Ana Maria Angarita, erzählen Sie uns von Ihnen.

Ich komme ursprünglich aus Kolumbien und kam als Flüchtling in die USA. Meine Familie und ich mussten die Folgen eines Bürgerkriegs, der über 50 Jahre dauerte und dessen Nachwirkungen mein Herkunftsland noch immer beeinträchtigen, aus erster Hand erfahren. Dieser Konflikt und die damit einhergehende Gewalt haben unser Leben über Nacht und für immer verändert. Als ich gerade mal 17 Jahre alt war, mussten wir 2001 aus Kolumbien fliehen und suchten in den USA Asyl. Im Jahr 2009 brachte mich das Leben in die Schweiz, wo ich zunächst in Genf und jetzt in Zürich lebe.

Ich betrachte mich als eine ewig Lernende, eine Menschenfreundin, eine Musikliebhaberin: Ich bin neugierig auf die Welt und die Vielfalt um mich herum. Heute bin ich mit einem Italiener verheiratet und wir haben eine Grossfamilie, die ein Melting Pot von Nationalitäten ist, aus Kolumbien, Italien, Spanien, Brasilien, den Vereinigten Staaten und England, und ich liebe diese multikulturelle Vielfalt.

Meine Berufung im Dienste von anderen zu sein hat mich dazu gebracht, eine Karriere in der internationalen Zusammenarbeit einzuschlagen. In meiner Laufbahn habe ich erfolgreich sektorübergreifende strategische Partnerschaften und Netzwerke sowie den Aufbau von Kapazitäten in Bereichen wie Migration, Beschäftigung, Kinderrechte und Gesundheit aufgebaut.

Erzählen Sie uns von Ihrer Reise bis in die Schweiz.

In den USA entwickelte ich meine Karriere in der internationalen Zusammenarbeit in Washington D.C. Während meiner Zeit dort machte ich meinen Bachelor-Abschluss und hatte die Möglichkeit, für einige Organisationen zu arbeiten, unter anderem für OAS, die Organisation Amerikanischer Staaten. Dies führte mich nach Genf, wo ich meinen Master in internationalen Beziehungen am Graduate Institute fortsetzen konnte, bevor ich bei der Internationalen Arbeitgeberorganisation und der Union für Internationale Krebsbekämpfung arbeitete.

Ana Maria hier im Bild mit ihrer Familie. Im Jahr 2001 mussten sie aus Kolumbien flüchten. ©Ana Maria Angarita
Ana Maria hier im Bild mit ihrer Familie. Im Jahr 2001 mussten sie aus Kolumbien flüchten. ©Ana Maria Angarita
Was war Ihr erster Eindruck von der Schweiz ?

Als ich aus den USA hierherkam, gab es viele Unterschiede in Bezug auf die Landschaft und die Arbeitsweise. Aber es war nicht so radikal, wie es sein könnte, wenn man direkt aus Kolumbien hierherkommt. Ich erinnere mich noch gut an den Tag meiner Ankunft in Genf, der ein Sonntag war. Alles war geschlossen, aber ich war beeindruckt von den schönen Landschaften. 

Es mag komisch klingen, aber da ich aus den USA kam, gefiel mir das Essen sehr. In der Schweiz schmeckte eine Tomate wie eine echte Tomate, und ich fand es toll, wie alles funktionierte und gut organisiert war. Ich hatte das Gefühl, meine kolumbianischen Wurzeln wiederzufinden, da ich die Möglichkeit hatte, wieder an einem Ort zu leben, der von Bergen und einer reichen Natur umgeben ist. Natürlich war der Übergang nicht einfach, denn er brachte schmerzhafte Erinnerungen zurück, die ich mit meiner Familie erlebt hatte, als wir Kolumbien zum ersten Mal verliessen. Aber dieses Mal war es meine Entscheidung, ich war erwachsen, hatte einen Ehemann und wollte die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Als ich in die Schweiz kam, war es mir am wichtigsten, mich sicher zu fühlen. Das ist ein Grundrecht, das ich schon in den USA erfahren habe, aber hier ist es auf einer ganz anderen Ebene. Es ist ein Privileg, die Strasse entlanggehen zu können, ohne über die Schulter zu schauen, und sich einfach sicher zu fühlen. Mit der Zeit lernte ich auch zu verstehen, wie das Land funktioniert, wie unterschiedlich die französisch- und deutschsprachigen Regionen sein können, nicht nur in Bezug auf die Sprache, sondern auch in Bezug auf Normen, Möglichkeiten und Kultur. Ich bin für immer dankbar für die Opportunitäten, die ich in diesem Land gefunden habe, und den Einfluss, den es auf mein Leben hatte.

Sie sind eine der Mitbegründer von Capacity in Zürich. Können Sie uns ein wenig mehr über Ihre Arbeit erzählen und was sie Ihnen bedeutet ?

Capacity ist ein gemeinnütziger Verein, der die Talente von Menschen mit Flüchtlings- und Migrationshintergrund in der Schweiz fördert. Das Ziel ist es, die sozioökonomische Integration von Flüchtlingen und Migranten zu erleichtern. Die Organisation wurde 2015 gegründet, wenige Monate bevor die Flüchtlingskrise Europa erreichte. Ihr Ziel war es, die Langzeitarbeitslosigkeit von Flüchtlingen und Migranten und deren Auswirkungen zu bekämpfen, vor allem in der Region Zürich, obwohl wir in den letzten Jahren mit Menschen aus dem ganzen Land gearbeitet haben. Durch unsere Arbeit und unsere eigenen Erfahrungen wissen wir, dass einige der Hürden, mit denen Flüchtlinge und Migranten konfrontiert sind, darin bestehen, dass ihre Diplome oder Zeugnisse nicht anerkannt werden, insbesondere in regulierten Bereichen wie Medizin oder Jura. Weitere Probleme sind die Sprachbarrieren, das fehlende Netzwerk und oft ein falsches Bild vom Herkunftsland.

Dies sind einige der Herausforderungen, die den Start in ein neues und unabhängiges Leben in der Schweiz erschweren. Als ich nach Zürich gezogen bin, habe ich diese Erfahrung selbst gemacht, denn es hat ziemlich lange gedauert, bis ich einen Job gefunden habe. In meinem Fall lag es vor allem an dem fehlenden Netzwerk und der Sprachbarriere. 

Ana Maria ist Mitbegründerin von Capacity. Ihr Ziel ist die sozioökonomische Integration von Flüchtlingen. © Capacity Zurich
Ana Maria ist Mitbegründerin von Capacity. Ihr Ziel ist die sozioökonomische Integration von Flüchtlingen. © Capacity Zurich

Mit Capacity haben wir das Unternehmertum als ein hervorragendes Instrument erkannt, um Menschen wieder auf die Beine zu helfen und wirtschaftlich unabhängig zu werden, und als eine Chance für sie, ein neues Leben zu beginnen. Die Projekte reichen von nachhaltiger Mode über soziale und kulturelle Initiativen bis hin zu Technologie und Bildung. 

Capacity rekrutiert derzeit für das neue Programm, das im März 2022 beginnt. Es ist eine hervorragende Möglichkeit, neue Kompetenzen zu erwerben und zu stärken, sein Netzwerk auszubauen, zu lernen, wie man ein Unternehmen in der Schweiz entwickelt und lanciert, aber auch zu verstehen, wie die Schweiz funktioniert.

Für mich ist die Mission von Capacity sehr persönlich und liegt mir sehr am Herzen. Ich habe das Gefühl, dass diese Organisation die Art von technischer und menschlicher Unterstützung bietet, die ich mir für meine Eltern gewünscht hätte, als wir in die USA kamen. Wir wurden mit sehr wenig Anleitung und Unterstützung zu Unternehmern. Wir lernten, uns in unserer neuen Heimat selbst zurechtzufinden und unsere Reise und die damit verbundene Ungewissheit in Kauf zu nehmen. Meine Familie und ich lernten, wie eine Fussballmannschaft zu denken. Wir lernten, uns gegenseitig den Ball zuzuspielen und unseren Teil dazu beizutragen, dass die Person, die es am dringendsten brauchte, ein Tor "schiessen" konnte. Die Umstände zwangen uns dazu, einfallsreich zu werden, über den Tellerrand zu schauen, in schwierigen Zeiten optimistisch zu sein und schliesslich widerstandsfähig zu werden. Heute verstehe ich die Hürden, die Flüchtlinge oder Migranten beim Umzug in ein neues Land überwinden müssen, und ich empfinde es als meine Pflicht, auf jede erdenkliche Weise zu helfen.
 

Gibt es Unterschiede zwischen dem Leben als Flüchtling in den USA und in der Schweiz ?

Ausgehend von meinen persönlichen Erfahrungen und dem, was ich bei meiner Arbeit mit Capacity gesehen habe, denke ich, dass beide Realitäten gleich schwierig, aber unterschiedlich sind. 

Als meine Familie im Jahr 2001 in den USA Asyl beantragte, gab es keine einzige Behörde, die uns mit Informationen versorgte und uns erklärte, was zu tun war, und es gab keine Websites mit klaren Informationen. Das war eine Herausforderung! Einige Monate nach unserer Ankunft in Miami begannen wir, über die katholische Kirche in unserer Nachbarschaft und eine kleine NGO Informationen zu sammeln. Schliesslich bekamen wir Kontakt zu einer lokalen Regierungsbehörde, die uns einen Überblick über die möglichen Wege für uns gab. Wir nahmen an bezahlten Englischkursen teil, die von Einwanderern geleitet wurden. Für mich war es von grundlegender Bedeutung, dass diese Kurse meist von Kubanern abgehalten wurden. Sie verstanden, was wir durchmachten, und das machte das Erlernen der Sprache einfacher. Aber ansonsten waren wir auf uns allein gestellt, und es gab keine Gemeinschaft, die uns unterstützt hätte. Manchmal fühlten wir uns irgendwie unsichtbar. 

Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten hatten wir Glück, denn unser Asylantrag wurde nach etwas mehr als einem Jahr bewilligt, und wir erhielten unsere Sozialversicherungs- und Arbeitserlaubnis, was uns die volle Kontrolle über unser Leben gab. Heutzutage habe ich das Gefühl, dass das Asylverfahren insgesamt schwieriger oder komplexer geworden ist, egal in welchem Land. 

Durch meine Arbeit bei Capacity bin ich vielen Flüchtlingen in der Region Zürich nahe. Das Verfahren ist besser strukturiert, aber die Hindernisse sind sehr ähnlich: die Sprachbarriere, das Fehlen eines Netzwerks, das Verständnis der Kultur. Das Zusammenleben in Flüchtlingsunterkünften mit Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen, die alle mit starken persönlichen Problemen konfrontiert sind, kann auch einen gewissen emotionalen Druck auslösen. Unsere Arbeit mit Capacity hat gezeigt, dass hochqualifizierte Fachkräfte oft Schwierigkeiten haben, weil es ihnen an angemessener Unterstützung fehlt, und wir tragen auch dazu bei, eine dringend benötigte Gemeinschaft zu schaffen, in der sie sich zugehörig fühlen und Zugang zu neuen Möglichkeiten erhalten.

Von der Natur und den Bergen umgeben zu sein, ist eine Art, sich wieder mit ihren  Wurzeln zu verbinden. © Ana Maria Angarita
Von der Natur und den Bergen umgeben zu sein, ist eine Art, sich wieder mit ihren Wurzeln zu verbinden. © Ana Maria Angarita
Wie werden Ihrer Meinung nach Flüchtlinge in der Schweiz wahrgenommen ?

Da gibt es unterschiedliche Meinungen. Durch meine Arbeit habe ich festgestellt, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit, das Leben von Asylbewerbern zu unterstützen, wächst, und es gibt landesweit viele grossartige Initiativen zur Unterstützung der Integration von Flüchtlingen. Wir sehen auch, dass sich Unternehmen zunehmend für die Unterstützung von Flüchtlingen einsetzen und sogar ihre Arbeitsplätze anpassen, um sie willkommen zu heissen. Die Schweiz ist ein Land mit humanitärer Tradition, und die meisten Menschen verstehen die Notwendigkeit, Menschen in Not zu helfen. Als die jüngste humanitäre Krise in Afghanistan ausbrach, gab es eine Online-Petition, die die sofortige Aufnahme von mindestens 5.000 Afghanen in der Schweiz forderte. Das zeigt, dass es Menschen gibt, denen es nicht egal ist, was anderswo passiert.

Ich denke aber, dass wir in der Schweiz einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Migranten und Flüchtlingen brauchen. Die hier lebenden Menschen müssen weiter sensibilisiert werden, damit sie sich nicht von Neuankömmlingen bedroht fühlen, die sich in vielen Fällen nicht ausgesucht haben, hierher zu kommen. Sie hatten keine Wahl, denn es war für sie die einzige Möglichkeit zu überleben. Wir alle haben das Recht, ein sicheres und glückliches Leben zu führen. Migranten und Flüchtlinge sind Menschen mit einem reichen kulturellen Hintergrund, sie haben viele Talente und neue Ideen, und sie können eine Bereicherung für die Gesellschaft sein.

Wenn Sie der Schweizer Bevölkerung eine Botschaft geben könnten, was würden Sie ihnen sagen ?

Als ehemaliger Flüchtling würde ich ihnen raten, Flüchtlingen gegenüber offen zu sein und - wenn sie dazu in der Lage sind - sie in ihren Bemühungen zu unterstützen und in ihre Talente zu investieren. Es gibt immer noch ein begrenztes Verständnis für Flüchtlinge und ihr Leben. Wenn die Menschen daran interessiert sind, mehr über die Herausforderungen zu erfahren, mit denen Flüchtlinge konfrontiert sind, sollten sie sich engagieren oder sogar ehrenamtlich in Initiativen mitarbeiten, die sie unterstützen. Ich glaube, dass der direkte Kontakt mit Flüchtlingen der beste Weg ist, um offen zu bleiben und den Wert der Zusammenarbeit mit ihnen zu erkennen.

Meine Geschichte ist nur eine von Millionen Geschichten von Menschen, die sich nicht entschieden haben, ihr Heimatland zu verlassen. Menschen, deren Schranken jedes Mal auf die Probe gestellt wurden, deren Träume zerbrochen wurden, die aber trotzdem noch neue gefunden haben. Wenn die lokale Bevölkerung bereit ist zu helfen, hat sie die Möglichkeit, zum Wohlstand starker Menschen beizutragen, die die Kraft haben, sich neu zu erfinden, sich an schwierige Situationen anzupassen, und die sehr stolz auf ihre Herkunft sind.