Jin Davod hatte ihr Leben fest im Griff: bis der Krieg alles veränderte. Sie war gezwungen, aus Syrien zu flüchten, und als ihre Familie und sie selbst in Türkiye Schutz fanden, wurde bei ihr eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert. Sie verwandelte ihr Trauma in etwas Positives und gründete Peace Therapist, eine kostenlose Online-Plattform für Flüchtlinge und Vertriebene. Nach dem Erdbeben von 2023 gelang es ihr, Tausenden von Menschen in Not psychologische Hilfe zukommen zu lassen, und sie verändert weiterhin Leben zum Besseren. In Anerkennung ihrer Arbeit wurde Jin Davod 2024 mit dem Nansen-Flüchtlingspreis von UNHCR für die Region Europa ausgezeichnet.
Die Sozialunternehmerin Jin Davod hat eine innovative Online-Plattform entwickelt, die Tausenden von Flüchtlingen in Türkiye und anderswo Zugang zu kostenlosen psychologischen Diensten ermöglicht.
Als Jin Davod am 6. Februar 2023 vor dem Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen wurde, war ihr erster Gedanke, dass eine Bombe, wie die, die ihre Familie neun Jahre zuvor in Syrien knapp verfehlt hatte, auf ihr Wohnhaus in Şanlıurfa im Süden von Türkiye gefallen war. Innerhalb von Sekunden wurde ihr jedoch klar, dass es sich nicht um eine Bombe, sondern dass die Erde bebteund dass sie, ihre Eltern und ihre drei jüngeren Geschwister so schnell wie möglich das Gebäude verlassen mussten.
„Mein Vater versuchte, die Tür zu öffnen, aber alles wackelte so stark, dass er den Schlüssel nicht drehen konnte“, erinnert sich Jin. "Es waren nur Sekunden, aber es fühlte sich wie Stunden an. Als er schliesslich die Tür öffnete, rannten wir so schnell wir konnten."
Barfuss und zitternd in ihren Schlafanzügen schaffte es die Familie zu ihrem Auto, wo sie die nächsten Tage verbrachte und auf das Abklingen der Nachbeben wartete.
Frieden spenden in Zeiten der Krise: Die Idee hinter Peace Therapist
Noch am selben Tag veröffentlichte Jin in den sozialen Medien eine Hotline für Peace Therapist, die Online-Plattform, die sie ein Jahr zuvor entwickelthatte, und konnte somit Flüchtlinge und türkische Bürger mit psychologischen Diensten in mehreren Sprachen vernetzen.
„Ich schrieb, dass sie für alle vom Erdbeben Betroffenen kostenlos nutzbar sei.”
Schon nach wenigen Stunden gingen 200 Hilfsanfragen ein – nach einigen Tagen waren es Tausende. Die Anfragen kamen sowohl von Flüchtlingen als auch von der lokalen Bevölkerung, von Menschen, die von dem schweren Beben der Stärke 7,8 und den Tausenden von Nachbeben traumatisiert worden waren.
„Die Flut der Anfragen hat mich schockiert und ich spürte den inneren Drang zu helfen“, erinnert sich Jin. „Also kontaktierte ich unsere Psychologen, die aus der Ferne arbeiteten, und sie leisteten Hunderte Stunden psychologischer Erste Hilfe.“
Genau diese Art von Hilfe hätte Jin selbst damals dringend gebraucht, als sie 2014 als traumatisierte 16-Jährige mit ihrer Familie in Şanlıurfa ankam.
Lassen Sie Jin Davod selbst ihre Geschichte erzählen und erfahren Sie, wie sie Peace Therapist gegründet hat (auf Englisch):
Jins Weg: Vom Kriegsgebiet in Syrien zur Hoffnung in Türkiye
Ihre Kindheit in Raqqa im Norden Syriens war glücklich und unbeschwert, wo ihr Vater Hasan ein angesehener Zahnarzt war. Jin selbst war eine fleissige Schülerin, die sich auf ihr Ziel konzentrierte, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden.
„Mein Leben war geplant - auf welche Universität ich gehen würde, was ich studieren würde, wo ich wohnen würde.“
Der Konflikt änderte all das, aber ihre Familie erkannte die Gefahr nicht sofort. "Die Bombardierung und die Kämpfe begannen, aber wir begriffen damals noch nicht, dass wirklich Krieg war und dass wir weg mussten. Dann kam der IS, und es wurde lebensgefährlich."
Jins Haus war von Regierungsgebäuden umgeben, nun von Kämpfern besetzt, was das Viertel zu einem Ziel für Luftangriffe machte. Die Familie kauerte in ihrer Wohnung und lebte in ständiger Angst.

"Das Geräusch der Bombardierungen war ständig zu hören. Ich konnte kaum essen und fand keinen Schlaf, denn sobald ich einschlief, befürchtete ich, dass ich meine Familie nicht wiedersehen würde", erzählt Jin.
An dem Tag, an dem eine Bombe im Garten vor ihrem Wohnhaus landete und eine Wand von Jins Schlafzimmer zerstörte, verstand die Familie endgültig, dass es an der Zeit war zu gehen, doch es vergingen Monate, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht bot.
Als eines frühen Morgens der Moment kam, flüchteten sie mit dem Auto aus der Stadt. Kaum hatten sie Türkiye erreicht, erhielten sie den Anruf eines Nachbarn, der berichtete, dass ihr Wohnhaus durch eine Bombe komplett zerstört worden war. Jin würde nicht mehr in das Haus zurückkehren können, in dem sie aufgewachsen war, und sie würde das Schicksal vieler ihrer Freunde und Nachbarn nie erfahren.
Vom Trauma zur Tatkraft: Wie Jin zur Gründerin wurde
In Şanlıurfa zog die Familie in eine Mietwohnung, die Jin ein Jahr lang nicht verliess.
„ Ich war völlig am Boden“, sagt sie. " Ich litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und schweren Albträumen. Ich wollte nichts tun, ich starrte nur die Wand an."
Sie musste erst noch Türkisch lernen und kannte keine Beratungsdienste, die in ihrer Muttersprache zur Verfügung standen.
Schliesslich beschloss sie mit der Ermutigung ihrer Eltern, ihren Traum vom Medizinstudium wieder aufleben zu lassen. Die nächsten zwei Jahre verbrachte sie damit, Türkisch zu lernen und für die Aufnahmeprüfungen an der Sekundarschule und an der Universität zu lernen, bis sie endlich einen Studienplatz an der Universität Haran erhielt, nicht um Medizin zu studieren, sondern Computertechnik – ihre zweite Wahl.

Im zweiten Studienjahr nahm sie an zwei Bootcamps teil, eines zur Entwicklung von Android-Anwendungen und eines zum Thema Unternehmertum, da kam ihr die Idee zu Peace Therapist. „Ab diesem Moment begann ich, konkret daran zu arbeiten; es fühlte sich für mich wie ein Hoffnungsschimmer an“, sagt sie.
„Bei all den Schwierigkeiten und Erfahrungen, die ich hatte, war ich mir sicher, dass auch andere Menschen Ähnliches erleben.“
Sie entwickelte einen detaillierten Geschäftsplan und begann, mit Softwareentwicklern und Psychologen zusammenzuarbeiten, um die Plattform aufzubauen. Zwei Jahre später ging das Unternehmen an den Start und verfügt heute über eine Liste von 100 Psychologinnen und Psychologen, die psychologische Sitzungen online auf Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Englisch durchführen. Während diejenigen, die es sich leisten können, für Einzel- oder Gruppensitzungen bezahlen, können benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Flüchtlinge diese Dienste kostenlos in Anspruch nehmen.

Stigmata brechen, Vertrauen schaffen: Wie Online-Therapie Leben verändert
Laut Suhail Ahmed, einem syrischen Psychologen, der seit einem Jahr mit Peace Therapist zusammenarbeitet, werden durch die Online-Therapie einige der Hindernisse beseitigt, die Menschen davon abhalten, Hilfe für ihre psychische Gesundheit zu suchen.
„Diese Plattform gewährleistet Vertraulichkeit und verringert das Stigma“, sagt er. „Durch die Online-Therapie fühlen sie sich frei, ohne Urteil zu sprechen, und können sogar über Tabuthemen sprechen.“
Viele seiner syrischen Klienten leiden unter traumatischen Erfahrungen durch den Krieg und das Erdbeben, erleben aber auch Ängste und Depressionen im Zusammenhang mit ihrer Situation in der Türkiye.
Als ein Freund Mahmut El Shekh – ein 63-jähriger ehemaliger Schneider aus Raqqa – von Peace Therapist erzählte, war er zunächst skeptisch, füllte aber das Online-Formular aus und wurde schnell mit Suhail verbunden. „Als Herr Suhail mich nach meinem Problem fragte, sagte ich ihm, dass ich mich fühle, als wäre ich seit 100 Jahren allein“, erinnert sich Mahmut.
Damals in Raqqa war er ein geselliger Mensch mit vielen Freunden gewesen. In Şanlıurfa konnte er wegen einer Nackenverletzung nicht arbeiten, trauerte zudem um Familienmitglieder, die er während des Krieges verloren hatte, und versank in eine Depression.
Mahmut fühlt sich jetzt besser gerüstet, um mit seiner psychischen Gesundheit umzugehen und zu verstehen, was seine Familienangehörigen möglicherweise durchmachen.
"In unserer Kultur denken wir nicht, dass psychische Probleme eine Krankheit sind, bei der man um Hilfe bitten kann, doch das ist ein Irrtum.”„Ohne Peace Therapist wäre mein Leben vielleicht immer noch leer“, sagt er und fügt hinzu, dass er jetzt hoffnungsvoller in die Zukunft blickt.

Anerkennung für Mut und Mitgefühl: Jin gewinnt den Nansen-Flüchtlingspreis
Für ihr Engagement bei der psychischen Betreuung von Flüchtlingen und anderen Überlebenden von Traumata wurde Jin zur regionalen Gewinnerin des Nansen-Flüchtlingspreises von UNHCR 2024 für Europaernannt.
„Das Feedback der Menschen, denen wir helfen konnten, ist die grösste Belohnung für mich, aber der Gewinn dieses Preises ist so bedeutsam“, sagt sie. „Er gibt mir die Motivation und den Mut, diese Arbeit fortzusetzen.“
Da sich das Land aufgrund der wirtschaftlich schwachen Situation nur langsam vom Erdbeben erholt, steigt der Bedarf an den Diensten von Peace Therapist weiter an. Jin arbeitet daran, die Reichweite der Plattform zu vergrössern, indem sie mehr Psychologen rekrutiert und enger mit humanitären Organisationen zusammenarbeitet.
„Peace Therapist wurde durch einen Krieg geboren, also ist unser Ziel immer, Frieden zu schaffen - inneren Frieden und Frieden in der Welt“, sagt sie. „Es beginnt alles in uns selbst.“
Peace Therapist ist eine kostenlose Online-Plattform, die psychologische Unterstützung auf Arabisch, Türkisch, Kurdisch und Englisch anbietet und speziell für Flüchtlinge und Vertriebene entwickelt wurde. Jeder, der von einem Trauma betroffen ist und psychologische Unterstützung benötigt, kann sich registrieren.
Peace Therapist bietet Zugang zu ausgebildeten Psychologen, die Arabisch, Türkisch, Kurdisch und Englisch sprechen, Traumatherapie sowie Austausch mit Gleichgesinnten. Der Dienst ist über das Mobiltelefon zugänglich und zielt darauf ab, die Stigmatisierung der psychischen Gesundheit zu verringern.
Jin Davod ist eine ehemalige syrische Geflüchtete, die Peace Therapist im Jahr 2020 gründete. Für ihre Arbeit zur Förderung der psychischen Gesundheit von Flüchtlingen wurde sie 2024 mit dem UNHCR Nansen Refugee Award (Gewinner der Region Europa) ausgezeichnet.