Tadesse Abraham wurde in Eritrea geboren. Dort musste er jeden Tag bis zu 20 Kilometer zu Fuß zur Schule zurücklegen. Schon bald fiel er durch seine außergewöhnliche Ausdauer und Schnelligkeit auf, und so entstand seine Leidenschaft für das Laufen. Tadesse schaffte es in die Nationalmannschaft seines Landes, aber sein Traum endete, als er aus Eritrea flüchten musste. Er kam 2004 in die Schweiz, lebte lange Zeit in Zürich und Uster, wo er immer noch Mitglied eines örtlichen Sportvereins ist, und wohnt nun in Genf. In unserem Land hat seine Karriere als Sportler so richtig Fahrt aufgenommen: Er ist Schweizer Rekordhalter im Marathonlauf und wird die Schweiz diesen Sommer bei den Olympischen Spielen in Paris vertreten, wo er zum dritten Mal teilnimmt. Vom Flüchtling zum Olympiahelden - dieser Weg war nicht einfach, wie uns der Athlet in einem Interview verriet.
Wie hast du deine Ankunft in der Schweizer Gesellschaft erlebt?
Es war nicht immer einfach, aber ich hatte auch gute Zeiten. Ich bin mit 22 Jahren hier angekommen, war also sehr jung. In diesem Alter ist es schwierig, die Kultur und die Sprache zu lernen - aber wenn du denkst, dass du keine Wahl hast, dann tust du es.
Welche Rolle hat der Sport bei deinem neuen Leben in der Schweiz gespielt?
Für mich hat der Sport eine große Rolle bei meiner Integration gespielt, weil ich dadurch viele Leute kennengelernt habe und überallhin gereist bin. Dank des Sports konnte ich wirklich in diesem neuen Leben bestehen, er hat mir geholfen, mich gut in die Schweizer Gesellschaft einzuleben. Für Menschen, die nicht sportlich sind, gibt es sicher auch andere Möglichkeiten, sich gut zu integrieren.
Was ist der Unterschied zwischen dem Laufen in Eritrea und dem in der Schweiz?
Beides ist Laufen. In Eritrea spricht man beim Laufen jedoch Tigrinja. Hier spricht man Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch. Was sich auch unterscheidet ist, mit wem ich laufe und welche Kulturen es gibt. In Eritrea gibt es auch mehr Höhenmeter als in der Schweiz. Aber egal in welchem Land, die Frage bleibt für alle Läuferinnen und Läufer gleich: gewinnst du oder nicht?
Was motiviert dich jeden Tag?
Zuerst war es meine Leidenschaft für den Laufsport, die dann zu meinem Beruf wurde. Jetzt stehe ich jeden Morgen auf, um zur Arbeit zu gehen, wie jeder andere auch. Aber wenn ich nicht laufen würde, würde etwas in meinem Leben fehlen. Ich habe das Glück, meine Leidenschaft ausüben zu können. Ich gebe mein Bestes, auch wenn das manchmal weh tut, weil ich liebe, was ich tue, und mich gerne anstrenge.
Du bist zuerst als Flüchtling in die Schweiz gekommen. Was möchtest du anderen Menschen sagen, die in die Schweiz flüchten?
Als Flüchtling und vor allem als Erwachsener hat man nicht viel Zeit, um zu entscheiden, was man tun möchte. Daher ist es wichtig, eine Wahl zu treffen. Ich persönlich habe mich für das Laufen entschieden und laufe nun schon seit vielen Jahren. Ich bin sehr zufrieden damit und habe das erreicht, was ich mir gewünscht habe. Diejenigen, die in die Schweiz kommen, müssen diese Wahl relativ schnell treffen. Sie können zwei oder drei verschiedene Optionen ausprobieren und sich dann auf diejenige konzentrieren, die ihnen am besten gefällt. Wenn es heute nicht klappt, wird es morgen klappen. Wir dürfen nicht nachlassen, wir müssen immer alles geben, um die Früchte unserer Arbeit ernten zu können
Was muss die Schweizer Bevölkerung über Flüchtlinge wissen?
Flüchtlinge sind wie Sie: Sie sind Menschen. Sie sind auch in der Lage, an der Gemeinschaft teilzunehmen. Sie müssen nur die Möglichkeit bekommen, zu zeigen, was sie können. Scheuen Sie sich nicht, sie anzusprechen und mit ihnen zu diskutieren, um herauszufinden, was sie tun möchten. Morgen werden sie wie Sie und ich an der Schweizer Gesellschaft teilhaben. Ich persönlich habe Medaillen für die Schweiz gewonnen; ich weiß, dass es viele Menschen wie mich gibt, die Potenzial haben und diesem Land viel geben können. Ja, sie sind für ein paar Jahre Flüchtlinge, aber dann werden sie zu Einwohnern und Steuerzahlerinnen der Schweiz.
Vincent Häring dreht zur Zeit einen Dokumentarfilm über deinen Werdegang. Was löst das bei dir aus?
Ich bin sehr stolz darauf. Dieser Dokumentarfilm ist nicht für mich, sondern für die anderen. Um ihnen zu zeigen, was man erreichen kann, um ihnen zu helfen und vor allem, um sie zu inspirieren. Durch diesen Dokumentarfilm kann ich mit gutem Beispiel vorangehen und die Gemeinschaft in der Schweiz und anderswo daran teilhaben lassen - und zeigen, dass alles möglich ist.
Ein Wort zum Schluss?
Ich bin nur ein einzelner Punkt der Schweizer Gemeinschaft, aber wenn wir viele Punkte zusammenbringen, können wir ein Muster schaffen. Es gibt viele Menschen wie mich, also gehen Sie auf sie zu, sprechen Sie mit ihnen und helfen Sie ihnen, zu Menschen zu werden, die ihre Fähigkeiten in der Schweiz einbringen können.
Wenn Sie eine Person sind, die flüchten musste, bleiben Sie motiviert und behalten Sie Ihre Ziele stets im Auge. Wir leben nur einmal, deshalb ist es wichtig, dass wir das, was wir uns wünschen, auch erreichen können.
Vielen Dank, Tadesse, und viel Glück in Paris!