Tadesse Abraham hat mehr Ausdauer als alle anderen. Der derzeit beste Schweizer Langstreckenläufer wird die Schweiz diesen Sommer an den Olympischen Spielen in Paris vertreten, nachdem er kürzlich beim Barcelona-Marathon einen neuen Schweizer Rekord aufgestellt hat. Und er hat seine Ausdauer auch schon anders unter Beweis gestellt: Tadesse wurde in Eritrea geboren und flüchtete 2004 in die Schweiz, wo er sich ein neues Leben aufbaute.
Diese Fähigkeit, durchzuhalten und Herausforderungen zu meistern, versucht der Filmemacher Vincent Häring derzeit in seinem Dokumentarfilm über das Leben von Tadesse Abraham einzufangen. Wir haben mit dem 38-Jährigen in Genf gesprochen.
Vincent, wie bist du auf die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über Tadesse Abraham zu drehen?
Ich habe 10 Jahre lang als IT-Ingenieur gearbeitet, aber dann wurde mir langweilig. Ich hatte keine Lust mehr, den ganzen Tag vor dem Computer zu sitzen. Ich suchte nach etwas Kreativerem. Ich hatte bereits Videos gedreht, aber nur zum Spass. Also habe ich mich gefragt: Warum mache ich nicht ein Geschäft daraus? Das war letztes Jahr, ich habe meinen Job gekündigt und mein eigenes Unternehmen gegründet. Dann musste ich meine Projekte finden, meine Nische, und da ich mich schon immer sehr für Sport interessierte, hatte ich schliesslich die Idee, Dokumentarfilme über Sportlerinnen und Sportler zu drehen. Ich will nicht nur ihre sportlichen Leistungen zeigen, sondern auch die Menschen hinter ihren Erfolgen porträtieren. Deshalb kam mir Tadesse Abraham in den Sinn, dem ich seit vielen Jahren auf Instagram folge. Ich habe mir seine Lebensgeschichte angesehen, und sie ist sehr interessant: Er hat in seinem Heimatland Eritrea mit dem Laufen angefangen, dann ist er geflüchtet und in der Schweiz gelandet. Also dachte ich: Ja, fangen wir doch mit Tadesse an! Ich habe ihn auf Instagram kontaktiert und ihm mein Projekt erklärt, und er war sofort begeistert davon. Er sagte: "Lass uns mal telefonieren!", und am Telefon erzählte er mir, dass er gerade in Kenia sei und für die Olympischen Spiele trainiere. Ich beschloss, dorthin zu fliegen und ihn ein paar Tage lang mit meiner Kamera zu begleiten. Ich begann also, ihn in Kenia zu filmen, das war im März. Und als Tadesse zurückkam, gewann er den Barcelona-Marathon und stellte einen neuen Schweizer Rekord auf, also hatte ich einen sehr guten Start (lächelt).
Was fasziniert dich an Tadesse Abraham?
Was ich an ihm mag, ist nicht nur sein Talent, sondern auch seine Einstellung. Er ist sehr bescheiden, er redet nicht viel über sich selbst und kommt immer direkt zur Sache. Er beschwert sich nie, und diese Seite von ihm möchte ich dem Publikum unbedingt zeigen. Er kam als Flüchtling, ja, der Neuanfang in der Schweiz war nicht einfach für ihn, aber er ist immer positiv geblieben. Er will nicht als Opfer gesehen werden, er will sein Leben selbst in die Hand nehmen. Er hat sogar Schweizerdeutsch und Französisch gelernt, weil er sich so gut wie möglich integrieren wollte. Er weiss immer, was er will und wie er es erreichen kann - deshalb ist er heute einer der Besten in seinem Sport. Wer in seiner Nähe ist, spürt einfach seine gute Ausstrahlung.
Glaubst du, dass dein Dokumentarfilm einen Einfluss auf die Schweizer Bevölkerung haben kann?
Ich bin überzeugt, dass Tadesse die allgemeine Meinung, die viele Menschen hier über Flüchtlinge haben, ändern kann. Die Leute denken manchmal, dass Flüchtlinge nur ein einfacheres Leben wollen und keine Pläne für ihre Zukunft haben. Aber das ist nicht wahr. Flüchtlinge haben Träume und Ziele wie alle anderen auch. Und das Beispiel von Tadesse zeigt, dass jemand alles erreichen kann, wenn er oder sie es wirklich will, wenn die Person sich auf ihr Ziel konzentriert und positiv bleibt. Das ist Tadesses eigentliche Botschaft: Ja, es wird schwierig sein - aber wähle deinen eigenen Weg, lass nicht andere für dich entscheiden und gib niemals auf!
Hat Tadesse dir von seiner eigenen Flüchtlingsgeschichte erzählt?
Er redet nicht viel darüber, aber was ich weiß: Tadesse ist aus Eritrea geflüchtet, weil er dort zum Militärdienst gezwungen worden wäre, der jahrzehntelang dauern kann. Das kommt einer staatlichen Zwangsarbeit gleich. Den Menschen in Eritrea wird so die Möglichkeit genommen, sich ein eigenständiges Leben aufzubauen. Wer nicht mitmacht, wird bestraft. Das Land zu verlassen ist illegal. Tadesse wusste, dass er seinen Traum, einen Marathon zu laufen, in Eritrea nicht verwirklichen kann. Also beschloss er zu flüchten, um sich seinen Traum zu erfüllen. Natürlich stieß er dabei auf viele Hindernisse, Vorurteile und sogar Rassismus. Aber er hat auch viel Unterstützung erfahren. Und er ist sehr dankbar, dass Menschen ihm auf seinem Weg geholfen haben. Er hat mir gesagt, dass er sich revanchieren möchte, er wolle selber anderen helfen, spätestens wenn er in Rente gehe. Andere Sportlerinnen und Sportler liegen ihm besonders am Herzen. Eine Idee ist, junge Sportler in Afrika zu unterstützen. Sie zu stärken, nicht sie wie arme Opfer zu behandeln, die alleine nicht zurecht kommen.
Also, Vincent, wann können wir deinen Dokumentarfilm sehen?
Ich weiss nicht genau, wann der Dokumentarfilm fertig sein wird. Tadesse plant, sich nach den Olympischen Spielen im August zurückzuziehen. Aber er hat noch einige Projekte bis zum Ende des Jahres. Ich werde ihn auf dieser Reise begleiten, egal wie er sich entscheidet. Ja, ich hoffe, dass mein Dokumentarfilm bis Ende 2024 fertig sein wird. Und es ist auch noch nicht klar, wo er zu sehen sein wird. Ich stehe in Kontakt mit verschiedenen Fernsehsendern in der Schweiz, aber da ich nicht nur die Schweizer Seite von Tadesse zeige, könnte der Film auch für andere Länder interessant sein. Wir werden also sehen.
Vielen Dank, Vincent, und viel Glück!
Wenn Sie mehr über Tadesse Abraham wissen möchten: Hier finden Sie das Interview plus Video.