Im September hat in Zürich die Rad- und Para-Cycling-WM der UCI (Weltverband des Radsports) stattgefunden. Die weltweit besten Velorennfahrerinnen und -fahrer kämpften in verschiedenen Disziplinen um einen Platz auf dem Podest. Darunter auch Ahmad Badreddin Wais. Der 33-jährige ist Teil des Flüchtlingsteams der UCI. Dass er sich heute im Einzelzeitfahren und Strassenrennen mit den Besten messen kann, ist auch für ihn noch wie ein Traum. Denn vor 10 Jahren musste Badreddin aus Syrien flüchten, und nach einer wahren Odysee verschlug es ihn schliesslich in die Schweiz. Wir konnten ihn während der WM in seinem Hotel in Kloten besuchen, wo er uns in fast perfektem Schweizerdeutsch mit leichtem Berner Akzent seine bewegende Geschichte erzählte.
Badreddin, wir gratulieren herzlich zu deiner Teilnahme an der Rad-WM. Bist du zufrieden mit deinen Resultaten?
Ich bin sehr zufrieden und stolz. Mein Ziel war, alles zu gehen, und das habe ich getan. Ich war auch sehr emotional, denn es bedeutet mir sehr viel, dass ich an einer WM fahren darf in meiner zweiten Heimat.
Wie bist du überhaupt zum Velorennfahren gekommen?
Ich habe zwei ältere Brüder und die sind gerne und viel Velo gefahren – auch sehr schnell, was immer zu Diskussionen in der Familie geführt hat (lacht). Mich hat das aber fasziniert und ich wollte deshalb auch Velofahren. In Aleppo, wo ich aufgewachsen bin, war das allerdings kein populärer Sport. Es gibt auch kaum Velowege dort, also ist es ziemlich gefährlich, was meine Eltern natürlich gar nicht gut fanden. Aber ich setzte mich durch, und mit 17 war ich schliesslich im syrischen Nationalteam. Ich gewann in meinem Land alle Preise, nahm an den arabischen Meisterschaften teil und fuhr als erster Syrer an einer Junior-WM.
Ich hatte noch ein Jahr bis zum Abschluss, aber plötzlich mussten alle Universitäten schliessen.
Dann begann 2011 der Krieg und veränderte alles…
Ja, anfangs hatte ich noch Hoffnung. Ich studierte damals Sportwissenschaften in der Hauptstadt Damaskus. Ich hatte noch ein Jahr bis zum Abschluss, aber plötzlich mussten alle Universitäten schliessen. Ausserdem wurde ich ins Militär eingezogen, ich wollte aber nicht in diesem Krieg kämpfen. So beschloss ich 2014 zu flüchten. Ein Teil meiner Familie war sowieso schon in der Türkei, also reiste ich über Beirut im Libanon dorthin. Aber auch in der Türkei war ich nicht sicher, denn es gibt dort Leute, die nach Militärverweigern wie mir Ausschau halten. Ich wollte also weiter nach Griechenland, das ging nur per Schlepperboot über das Mittelmeer.
Das weckt in uns die Bilder, die wir fast täglich in den Medien sehen: Diese Nussschalen vollgestopft mit Menschen.
Es ist wirklich schrecklich. Ich hatte nur einen Rucksack dabei, ich war komplett hoffnungslos. Mein ganzes Erspartes ging für diese Reise drauf, aber ich hatte keine andere Wahl. Drei Nächte habe ich zusammen mit anderen Geflüchteten in einem Wald verbracht, wir mussten warten, bis die Polizei weg war. Dann stiegen wir in das Boot. Es waren auch Kinder darunter und ältere Menschen. Viele sahen diese Flucht als letzte Chance in ihrem Leben. Ich wünsche so eine Reise niemandem.
Ich hatte keine Ahnung, was es eigentlich heisst, ein Geflüchteter zu sein oder ein Asylbewerber.
Wie ging es dann in Griechenland weiter?
Ich blieb zwei Monate in Athen, ich hatte Glück, ich hatte Freunde dort, bei denen ich leben konnte. Aber Griechenland war in einer Wirtschaftskrise, es gab dort nicht viele Optionen für mich. Ich war gerade mal 23 Jahre alt, eigentlich wollte ich einfach nur wieder Velofahren. Ich beschloss, es in den Niederlanden oder in Belgien zu versuchen, dem Heimatland des Velorennsports. Mit falschen Papieren schaffte ich es, mir einen Flug nach Genf zu buchen. Ich dachte, von dort aus kann ich dann mit dem Zug weiterreisen. Aber als ich 2015 in Genf aus dem Flugzeug stieg und den Genfersee sah, dachte ich: Wow, wie schön es hier ist! Und wenn ich in den Schweizer Bergen trainiere, macht mich das sicher stärker. Ausserdem hat die UCI ihren Hauptsitz in Aigle. Also beschloss ich zu bleiben und kam bei einem Freund unter, der in der Nähe von Lausanne lebt.
Du scheinst sehr viele Freunde zu haben, überall auf der Welt!
Ja, die habe ich alle über den Sport kennengelernt, wir blieben stets über Social Media vernetzt.
Und wie ging es dann weiter?
Ich hatte keine Ahnung, was es eigentlich heisst, ein Geflüchteter zu sein oder ein Asylbewerber. Mein Freund in Lausanne verwies mich darauf ans Bundesasylzentrum in Vallorbe. Ich ging dort hin, aber sie schickten mich weiter nach Altstätten im Kanton St. Gallen, weil sie schon voll waren. Dort wurde ich schliesslich ins Asylverfahren aufgenommen und lebte in einem Asylzentrum in Morschach, Kanton Schwyz. Ein ganzes Jahr blieb ich dort und musste warten. Das war eine sehr schwierige Zeit für mich. Du darfst ja nichts machen, so lange das Verfahren noch hängig ist. Ich brachte mir selber etwas Deutsch bei und fuhr endlich wieder Velo. Ja, auch das Velo wurde mir durch Freunde vermittelt (lacht). Ich kam so viel in der Schweiz herum, lernte viele Leute und die heimische Kultur kennen, es war wie eine Therapie für mich.
Und das erste, was ich machte, war, mich an einer Deutschschule für einen Intensivkurs anzumelden.
Dann kam endlich der positive Asylentscheid.
Und das erste, was ich machte, war, mich an einer Deutschschule für einen Intensivkurs anzumelden. Ich sagte mir, wenn ich wirklich hier bleiben möchte, dann muss ich die Sprache können. Als ich den Kurs abgeschlossen hatte, begann ich, in einem Veloladen zu arbeiten, daneben trainierte ich weiter.
Und schliesslich kam der Erfolg.
Ich träumte ja schon als Teenager von der Tour de France, von den Olympischen Spielen. Also beschloss ich, es wird Zeit, dass ich wieder internationale Rennen fahre. Aber als Geflüchteter ist es nicht so einfach, die nötige Unterstützung dafür zu bekommen. Also wandte ich mich an das IOC, das Internationale Olympische Komitee. Und dort hiess es dann, wir haben ein Flüchtlingsteam, komm zu uns! Ich bin sehr dankbar dafür, sie unterstützten mich beim Training, mit der Ausrüstung etc. Und so konnte ich 2021 an die Olympischen Spiele in Tokio reisen. Dieses Jahr in Paris war ich nicht dabei, aber ich hoffe, es vielleicht wieder an die nächsten Olympischen Spiele zu schaffen. Mal schauen, ich bin doch auch schon 33 Jahre alt (lacht). Aber im Velorennsport sind eigentlich lange Karrieren möglich.
Wir drücken die Daumen! Badreddin, heute lebst du in Burgdorf im Kanton Bern. Wie sieht dein Alltag aus?
Ich arbeite Teilzeit als Laufberater in der Stadt Bern und unterstütze dort Athletinnen und Athleten. Den Rest der Zeit bin ich auf dem Velo unterwegs. Der Kanton Bern ist für mich ideal. Ich bin nicht allzu weit weg von Frankreich, dort fahre ich oft Rennen. Und es gibt mit dem Seeland, dem Jura und dem Emmental sehr gute Möglichkeiten, um zu trainieren.
Du hast immer noch Familie in Syrien.
Ja, meine Mutter lebt noch dort, zum Beispiel. Ich habe sie seit 10 Jahren nicht mehr gesehen, das ist sehr schwierig für beide von uns. Natürlich will sie auch ausreisen, aber zur Zeit ist das nicht möglich, die Lage ist einfach zu gefährlich. Ich habe versucht, sie in die Schweiz zu bringen, aber Familiennachzug ist praktisch unmöglich. Ich selber kann auch nicht nach Syrien reisen, weil ich das Militär verweigert habe und sofort verhaftet würde.
Was würdest du anderen Geflüchteten raten?
Ich empfehle, als erstes wirklich die Sprache der neuen Gemeinschaft zu lernen. Das hilft bei der Integration. Genau so auch der Sport, der verbindet, er bringt dich in Kontakt mit anderen Menschen. Ich bin dem Velorennsport sehr dankbar, er hat mir wirklich extrem dabei geholfen, dass ich jetzt dort bin, wo ich bin.
Und was rätst du den Menschen in der Schweiz, wie können sie Geflüchteten am besten bei der Integration unterstützen?
Sie sollten mehr auf Geflüchtete zugehen, mit ihnen sprechen und ihnen dabei helfen, die Schweizer Kultur zu verstehen. Viele Personen, die neu in die Schweiz kommen, schämen sich ein bisschen, wenn sie die Sprache noch nicht wirklich gut können und ziehen sich deshalb eher zurück. Aber wir sollten sie einfach ermutigen zu sprechen und ihnen zeigen, dass wir uns für sie und ihre Geschichte interessieren.
Danke vielmals für das Gespräch, Badreddin. Wir wünschen dir für die Zukunft weiterhin viel Erfolg!
Der Krieg in Syrien hält nun schon seit 13 Jahren an. Die vertriebenen Menschen brauchen dringend unsere Hilfe – gerade jetzt noch mehr, wo der Winter kommt und die Temperaturen fallen.