Afghanistan steht vor tiefgreifenden Herausforderungen. Seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 hat sich die Situation für die Menschen dort erheblich verschlechtert. Nahrungsmittelknappheit und Armut belasten die Familien, die vor dem Konflikt flüchten mussten, schwer. Trotz des feindseligen Umfelds für NGOs engagiert sich UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, weiterhin für die vielen Vertriebenen und bietet ihnen in diesen schweren Zeiten wichtige Unterstützung und Hoffnung.
Leonard Zulu leitete die UNHCR-Mission in Afghanistan mehr als zwei Jahre lang. Sein Auftrag in diesem Land endete erst kürzlich. Er hat hautnah miterlebt, wie zahlreiche Einschränkungen, wirtschaftliche Stagnation, Erdbeben und Überschwemmungen Afghanistan schwer getroffen haben. Die Situation ist für Frauen und Mädchen besonders schwierig.
Leonard Zulu kam im Juni kurz in die Schweiz, in seinen letzten Tagen als UNHCR-Leiter in Afghanistan, und wir konnten mit ihm sprechen.
Herr Zulu, können Sie bitte die aktuelle Situation der Vertriebenen in Afghanistan beschreiben?
Derzeit sind insgesamt 23,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen – rund die Hälfte der afghanischen Bevölkerung. 3,2 Millionen sind Binnenflüchtlinge - sie mussten vor den Konflikten flüchten, sind aber im Land geblieben. 6,4 Millionen haben Afghanistan verlassen. Seit Oktober letzten Jahres kehrten 600‘000 Afghaninnen und Afghanen unter nicht ganz freiwilligen Umständen aus Pakistan in ihre Heimat zurück. Die humanitäre Krise in Afghanistan wird auch durch Naturkatastrophen verschärft: In den letzten zwei Jahren wurde das Land von mehreren Erdbeben erschüttert, und im Mai dieses Jahres wurden die Provinzen Baglan und Ghor überschwemmt. Ich habe gerade Anfang Juni ein Gebiet in der Provinz Baglan besucht, in dem mehr als 300 Menschen ihr Leben verloren haben. Dies geschieht zusätzlich zu den Dürren und Ernteausfällen, die es in Afghanistan immer wieder gibt, und die Situation wird aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs immer schwieriger. Immer mehr Menschen haben nicht genug zu essen, ihr Wohlbefinden verschlechtert sich, ihre Menschenrechte werden untergraben. Besonders besorgt bin ich über die Lage der Frauen und Mädchen. Mädchen dürfen nämlich ihre Ausbildung nicht über das sechste Schuljahr hinaus fortsetzen. Im Dezember 2023 wurden sie auch von den Universitäten verbannt.
Was brauchen die Menschen in Afghanistan?
In erster Linie brauchen sie Frieden. Nur so kann ihre Sicherheit gewährleistet werden. Gleich danach kommt die Ernährung. Der Mangel an Sicherheit und Nahrung führt zu psychosozialen Problemen und psychischen Störungen. Darüber hinaus machen sich viele Eltern Sorgen um ihre Kinder, weil sie Themen wie Ausbeutung, früher Heirat und Kinderarbeit ausgesetzt sind. Die Familien brauchen angemessene Unterkünfte, viele haben ihre Häuser verloren, weil sie während des Konflikts zerstört wurden. Sie brauchen rechtlichen Beistand, um einen Personalausweis zu erhalten. Der Zugang zu Bildung und Gesundheit ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung, denn es gibt nicht genügend Kliniken und Schulen in Afghanistan. Wie überall möchten Eltern ihre Kinder morgens in eine gute Schule bringen, in der sie sie in Sicherheit wissen, und sie später am Tag wieder willkommen heißen. Für uns sind das normale Dinge, aber nicht für die Afghaninnen und Afghanen. Die Menschen würden gerne ihren Lebensunterhalt verdienen, aber die Arbeitslosenquote ist sehr hoch, es ist sehr schwierig, eine gut bezahlte Arbeit zu finden. Vor allem für Frauen: Sie dürfen nur in bestimmten Sektoren arbeiten, und sie werden schlechter bezahlt als Männer. Sie sind von der Hochschulbildung ausgeschlossen. Wir wollen diese Menschenrechtsprobleme mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angehen.
Wir in der westlichen Welt können uns kaum vorstellen, eine Frau in Afghanistan zu sein. Können Sie deren Leben ein wenig näher beschreiben?
Nehmen wir an, eine Frau wacht morgens in ihrem Haus auf und möchte zum Markt gehen. Sie kann das Haus nicht verlassen, ohne dass ein männlicher Verwandter sie begleitet, sie darf nicht allein auf die Straße gehen. Vielleicht hatte sie früher einen Job, aber jetzt darf sie nicht mehr ins Büro. Der Besuch eines öffentlichen Parks, eines öffentlichen Bades oder des Fitnessstudios ist verboten. Wenn sie eine kleine Tochter hat, darf das Mädchen nur 6 Jahre lang zur Schule gehen. Wenn die Tochter schon etwas älter ist und zum Zeitpunkt des Verbots gerade ihr Abitur gemacht hat, darf sie jetzt nicht mehr zur Universität gehen. Wenn die Tochter bereits studiert hat, darf sie nun das Universitätsgelände nicht mehr betreten. Eine Frau, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt hat, hat keinen einfachen Zugang zu den Diensten, die ihr helfen könnten. Das ist jetzt stark eingeschränkt. Es ist also kein einfaches Leben für Frauen und Mädchen in Afghanistan im Moment.
Frauen sind in der afghanischen Gesellschaft im Grunde unsichtbar. Wie kann UNHCR ihnen helfen?
Manchmal können wir nach Gesprächen zu ihnen nach Hause gehen. Dafür brauchen wir Frauen in unserem Team, also setzen wir uns ständig dafür ein. Diese Mitarbeiterinnen fragen die afghanischen Frauen, was sie brauchen. Sie bieten ihnen einen sicheren Raum, in dem sie frei reden können. Die Hilfe für Frauen wird von Frauen geleistet, so dass wir einen kultursensiblen Ansatz gewährleisten können. Wir versuchen, sie zu befähigen, für ihre Rechte auf Arbeit, Bildung, Sport und Freizügigkeit einzutreten. All das ist bedroht.
Die Situation in Afghanistan erschwert die Arbeit von UNHCR. Aber auch der Mangel an Ressourcen. Können Sie aufzeigen, wie sich dies auf Ihre Arbeit auswirkt?
Wir sind nicht in der Lage, Hilfe in dem Umfang zu leisten, wie wir es versprochen haben. Unser Budget ist derzeit zu 39% finanziert, und ich möchte unseren Partnern, unseren Spenderinnen und allen, die dazu beigetragen haben, herzlich dafür danken. Wir müssen unsere Aktivitäten in Afghanistan ständig neu priorisieren und Mittel von einem Sektor auf den anderen verlagern. Wenn zum Beispiel die Zahl der Rückkehrenden nach Afghanistan zunimmt, müssen wir diese Menschen unterstützen, damit sie sich ein neues Leben aufbauen können. Wir müssen dieses Geld von einem anderen geplanten und notwendigen Projekt abziehen, also vielleicht den Bau von Häusern für Familien, die bereits in Afghanistan sind, verschieben. Oder wir müssen den Bau einer neuen Klinik, die die Gemeinde dringend braucht, verschieben, weil wir dieses Geld für Unterkünfte verwenden müssen. Wir versuchen ständig, mit weniger Mitteln mehr zu erreichen. Wir sind auf die Großzügigkeit der Menschen, auf die Spendenden angewiesen, damit wir den Menschen lebensrettende Hilfe zukommen lassen können, die sie dringend brauchen. UNHCR wird in Afghanistan bleiben, auch wenn die Mittel begrenzt sind, denn das ist wichtig: Wir sind da, um Zeuginnen und Zeugen zu sein, wir sind da in Solidarität mit den Menschen und wir sind da, um Hilfe zu leisten. Aber ja, wir brauchen mehr Mittel, um die benötigte Unterstützung bieten zu können, damit wir nicht gezwungen sind, harte Entscheidungen zu treffen, wer heute Hilfe erhält und wer warten muss.
UNHCR wird in Afghanistan bleiben, seine Arbeit dort ist sehr wichtig - aber ich schätze, dass das auch einen Tribut von den Mitarbeitenden fordert...
Ich habe 354 Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in Afghanistan zusammenarbeite, und ich bin sehr stolz auf sie. Sie arbeiten dort, weil sie die Ergebnisse sehen. Sie sehen, wie eine Familie, die früher in einem Zelt lebte, in ein Haus einzieht. Sie sehen das Lächeln auf den Gesichtern dieser Menschen, und das macht sie glücklich. Sie wissen, dass sich all die harte Arbeit und die Opfer, die sie bringen, lohnen. Besonders stolz bin ich auf die afghanischen Mitarbeitenden, unter ihnen mehr als 60 Frauen, die diese Situation bereits seit vielen Jahren ertragen. Und trotzdem stehen sie jeden Morgen auf, um ihren Landsleuten lebensrettende Hilfe zukommen zu lassen. Wir haben Bewältigungsmechanismen und Personalberatung, die uns helfen, den Stress besser zu bewältigen. Aber ich glaube, was uns wirklich antreibt, ist die Tatsache, dass wir die positiven Auswirkungen unserer Arbeit vor Ort sehen. Die Schulen, die Kliniken, die Straßen, die wir bauen, um die Gemeinden zu verbinden. Die von uns eingerichteten Geschäftszentren, in denen die Frauen unten ihren Lebensunterhalt verdienen und oben in einem sicheren Umfeld zusammenkommen und sich austauschen können. Wenn Sie sehen, wie in einem abgelegenen Dorf ein gesundes Baby geboren wird und dank einer unserer ausgebildeten Hebammen das Leben der Mutter gerettet werden konnte - da wird Ihnen warm ums Herz. Das lässt einen jeden Morgen aufwachen und dazu bereit sein, an der Seite der Menschen in Afghanistan zu stehen.
Ich bin sicher, dass die Menschen in der Schweiz schockiert sind über die Situation in Afghanistan. Aber manche fühlen sich hilflos, weil sie sich fragen: Was kann ich schon tun, um das Leben dieser Menschen zu verbessern...? Nun, was können wir tun?
Sie können spenden, um unsere Programme in Afghanistan zu unterstützen. Auf unserer Website können Sie sehen, was wir in diesem Land tun und mehr über unsere Arbeit dort erfahren. Jeder Franken zählt - aber auch Ihre Solidarität. Denken Sie ab und zu an die Menschen in Afghanistan, sprechen Sie mit Ihrer Familie und Ihren Freunden über sie, sagen Sie etwas zur Unterstützung der Frauen und Mädchen dort. Es sind Ihr Geld und Ihr Herz, die den Unterschied machen. Herzlichen Dank!
Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Zulu.