Stellen Sie sich vor: Sie sind ein Spitzenathlet, eine Spitzenathletin, aber da sie gezwungen waren, ihr Land zu verlassen, können sie es nun nicht mehr an den Olympischen Spielen vertreten. Ein grosser Knick für die sportliche Karriere und sehr demoralisierend für die betroffenen Sportlerinnen und Sportler. Aber auch ein Verlust für die gesamte Welt des Sports, weil diese Talente so einfach verborgen bleiben.
Zum Glück hat das Internationale Olympische Komitee IOC diese Ungerechtigkeit 2015 erkannt und sich dazu entschieden, ab jetzt auch immer ein Flüchtlingsteam an den Olympischen Spielen teilnehmen zu lassen. 2016 war das in Rio erstmals der Fall, 10 Athletinnen und Athleten zählte das Team damals.
Dieses Jahr in Paris ist das Team bereits auf 37 Flüchtlinge angewachsen, die in insgesamt 12 verschiedenen Disziplinen an den Start gehen. Darunter sind auch Athletinnen und Athleten, die in der Schweiz Zuflucht gefunden haben.
Kurz vor dem Beginn der Spiele in Paris, konnten wir mit zwei von ihnen sprechen: Mit Luna Solomon, einer jungen Sportschützin aus Eritrea, und Musa Suliman aus dem Sudan, der als Mittelstreckenläufer nach einer Medaille strebt.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels hat Luna ihren Auftritt in der Disziplin 10m Luftgewehr bereits hinter sich. Für das Finale hat es leider nicht gereicht, wir gratulieren trotzdem ganz herzlich zu dieser Leistung!
Die 30-jährige Mutter eines kleinen Sohnes konnte ihre zweite Teilnahme an den Olympischen Spielen viel mehr geniessen, wie sie beteuert: „Ich kenne mich nun besser aus und habe schon viele nette Leute getroffen, andere Kulturen und Sprachen kennengelernt.“
Luna Solomon kam 2015 aus Eritrea in die Schweiz. Sie habe ihr Land verlassen müssen, weil sie dort einfach keine Freiheit gehabt habe, als Frau nicht mal habe arbeiten dürfen. Sie lebt heute in Lausanne, wo sie vor einigen Jahren den dreifachen Olympiasieger im Sportschiessen Niccolò Cipriani kennenlernte. Er bot ihr an, es doch einfach mal zu versuchen mit dem Luftgewehr – und ehe sich Luna versah, trainierte sie für die Olympischen Spiele. Der Sport habe ihr geholfen, sich täglich zu motivieren und zu konzentrieren: „Er hat mein Leben positiv verändert. Ich bin der Schweiz sehr dankbar, dass sie mir die Türen zu diesem Sport geöffnet hat“, sagt die junge Frau.
Auch für Musa Suliman war die Entdeckung seines Talents eine Offenbarung. Sportbegeistert war er schon immer, als er 2021 in die Schweiz kam, wurde er zuerst Mitglied eines Fussballclubs in Bern. Dort fiel im Training rasch auf, wie schnell und ausdauernd er laufen konnte. Also wechselte er die Sportart und trainiert seither sechsmal pro Woche. Der 20-Jährige musste in seinem Heimatland Sudan schon als Kind die Schrecken des Krieges miterleben. Er flüchtete zuerst nach Ägypten, wo er als Teenager bereits arbeiten musste, um seine Familie finanziell unterstützen zu können. Seine Vergangenheit hat ihn sehr geprägt, sein Selbstbewusstein litt stark darunter. Vor dem Sport habe er keinen Sinn im Leben gehabt, sagt Musa: „Erst durch das Laufen habe ich zu mir gefunden. Der Sport hilft mir, Herausforderungen zu meistern. Dank ihm kann ich mich leichter integrieren, Deutsch lernen, Menschen treffen.” Der junge Athlet ist sehr glücklich über sein neues Leben, und das habe er klar der Schweiz zu verdanken.
Beide, Musa und Luna, wären gerne für die Schweiz in Paris angetreten. Luna sagt, dass sie sich nach 9 Jahren hier komplett zu Hause fühle. Aber natürlich wäre sie auch gerne für ihr Herkunftsland Eritrea an den Start gegangen, Musa für den Sudan. Aber das ist beides leider nicht möglich. “Ja, es ist schon etwas anderes, im Flüchtlingsteam teilzunehmen”, nickt Musa, “aber es ist auch eine Ehre. Für den Sudan oder für die Flüchtlinge – es macht für mich eigentlich keinen grossen Unterschied.” Und Luna doppelt nach: “Ich bin stolz, die Flüchtlinge an den Olympischen Spielen zu vertreten. Sie sind ein Teil der Welt. Ich finde es gut, kann ich so auf ihre Situation aufmerksam machen. Deshalb ist es nicht ganz so schlimm für mich, kann ich nicht für Eritrea antreten.”
Anderen jungen Flüchtlingen möchten die Sportschützin und der Mittelstreckenläufer Mut machen. Sie sollen für ihre Träume kämpfen. Auch als Flüchtling gäbe es die gleichen zwei Türen wie für alle anderen Menschen, glaubt Luna Solomon, eine hinein und eine hinaus. Jeder und jede müsse einfach eine Entscheidung treffen. Immer an sich glauben, rät auch Musa Suliman. “Hört nicht auf Leute, die euch sagen, ihr könnt das nicht. Macht einfach weiter, die Belohnung wird kommen.”
Anders als Luna hat Musa seinen ersten Auftritt an den Olympischen Spielen in Paris noch vor sich. Er versucht, gelassen zu bleiben und einfach zuversichtlich zu sein: “Ich hoffe einfach, dass ich an diesem Tag gute Beine haben werde”.
Wir werden Musa natürlich anfeuern und wünschen ihm viel Glück!
Es ist ihm und Luna sehr zu wünschen, dass sie eines Tages für ihre Herkunftsländer um Medaillen kämpfen können – oder vielleicht für ihr neues Heimatland, die Schweiz. Möglich ist das, wie das Beispiel von Marathonläufer Tadesse Abraham zeigt. Er flüchtete damals aus Eritrea in die Schweiz und verfolgte auch weiterhin seine Karriere als Marathonläufer. In Paris nimmt er nun schon zum dritten Mal an den Olympischen Spielen teil – für die Schweiz. Wir haben Tadesse vor einigen Monaten getroffen und mit ihm gesprochen.
Und wenn Sie über das Olympische Flüchtlingsteam für Paris 2024 auf dem Laufenden bleiben wollen, dann schauen sie regelmässig hier vorbei.
Wie sich die Athletinnen und Athleten schliesslich an den Olympischen Spielen geschlagen haben, lesen Sie hier.