Di., 09.12.2025 - 08:46

Drei Jahre nach Beginn eines Krieges, der kein Ende zu nehmen scheint, sitzt Anne-Marie Deutschlander, UNHCR-Vertreterin in Moldau, in ihrem Büro in Chișinău und sieht sich unmöglichen Entscheidungen gegenüber. Die Schweizer Humanitäre, die seit fast 30 Jahren für UNHCR tätig ist, leitet heute die Einsätze der Flüchtlingsorganisation in Moldau – einem der wirtschaftlich am stärksten gefährdeten Länder Europas, das über 130’000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat. Die meisten sind Frauen, Kinder und ältere Menschen, deren Ehemänner und Söhne weiterhin an der Front stehen.

«Was wäre, wenn ich das wäre?», fragt sie. «Das ist die Frage, die ich mir wünsche, dass sich die Menschen in der Schweiz stellen.» 

Ältere ukrainische Flüchtlinge in Moldawien

Die harte Realität des Flüchtlingsalltags in Moldau: kalte Wohnungen, Stromausfälle, Isolation

Die Zahlen zeigen eine schwierige Realität. Das durchschnittliche monatliche Einkommen von besonders vulnerablen Flüchtlingen in Moldau beträgt 55 Euro – rund CHF 48. Das liegt 69% unter der absoluten Armutsgrenze des Landes. Selbst in einem der ärmsten Länder Europas reicht es nicht aus, um die Grundbedürfnisse zu decken.

„Stellen Sie sich Ihre eigenen Grosseltern in einer Situation vor, in der es sehr, sehr kalt ist“, sagt Deutschlander mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme. Sie erzählt von einer älteren Frau, die allein im Osten Moldaus lebt, ihr Sohn an der Front, und die den grössten Teil des letzten Winters im Bett verbrachte. Mit nachlassender Sehkraft und häufigen Stromausfällen hatte sie Angst, im Dunkeln zu stürzen – ohne jemanden, der ihr helfen könnte.

Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Gemäss UNHCR-Daten sind 64% der ukrainischen Flüchtlinge in Moldau Frauen und Mädchen. Fast die Hälfte sind Kinder. Jede dritte Person ist älter oder hat eine Behinderung.

130'000
ukrainische Flüchtlinge in Moldau
64 %
der ukrainischen Flüchtlinge in Moldau sind Frauen und Mädchen
~50 %
sind Kinder
1/3
sind ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung
Anne-Marie Deutschlander, UNHCR-Vertreterin in Moldawien und Schweizerin

Die wichtige Rolle Moldaus für Flüchtlinge aus der Ukraine

Moldau liegt direkt neben der Ukraine. Wer dort arbeitet, betont Deutschlander, liest nicht einfach in der Zeitung über den Krieg – er ist tägliche Realität. Das Land hat seit Beginn der Invasion über zwei Millionen Grenzübertritte verzeichnet und zeigt bemerkenswerte Grosszügigkeit gegenüber Menschen, die aus der Ukraine flüchten – Grosszügigkeit von Menschen, die selbst nur sehr wenig besitzen. 

Doch diese Hilfsbereitschaft steht unter Druck. Ohne kontinuierliche Unterstützung für die vulnerabelsten Flüchtlinge und für die armen moldauischen Familien, die sie aufnehmen, droht der gesellschaftliche Zusammenhalt im Land zu bröckeln.

„Flüchtlinge sind Menschen wie alle anderen“, betont Deutschlander. „Sie haben sich ihre Flucht nicht ausgesucht. Diese Menschen lebten in der Ukraine, sie hatten gute Leben. Sie hatten Familien und Arbeit, Träume und Pläne für die Zukunft, genau wie wir. Das dürfen wir nie vergessen.“

UNHCRs härtester Winter: Kürzungen trotz wachsender Bedürfnisse

Jetzt, da der Winter naht, steht UNHCR vor dem, was Deutschlander „die schlimmste Finanzkrise seiner Geschichte“ nennt. Seit 2022 hat das Bargeldhilfe-Programm über 135’000 ukrainische Flüchtlinge unterstützt und rund 200 Millionen US-Dollar ausgezahlt. Doch die Finanzierung ist versiegt.

Die Ukraine im Winter während des Krieges

Im April mussten die monatlichen Unterstützungsbeträge gekürzt werden. Das reichte nicht. Auch das Programm, das derzeit 16’000 besonders vulnerable Flüchtlinge unterstützt, steht vor einschneidenden Reduktionen.

„Einem Partner mitteilen zu müssen, dass wir das Budget kürzen müssen, oder einem Mitarbeitenden, dass er oder sie die Stelle verliert – nicht wegen schlechter Leistung, sondern einfach wegen fehlender Mittel – das war für mich in letzter Zeit am schwierigsten“, gesteht Deutschlander.

Ihr Team hat sich intensiv bei Geldgebern in Europa und in UNHCRs Hauptsitz in Genf eingesetzt, um die Unterstützung für Moldau aufrechtzuerhalten. Das Problem ist nicht einzigartig für Moldau. Die meisten UN-Organisationen stehen unter ähnlichem Druck. Andere Krisen konkurrieren um Aufmerksamkeit und Ressourcen.

Die menschliche Seite der Zahlen: Wie Flüchtlinge den Winter überstehen

Was bedeutet das konkret? Olga, 41, floh aus der Region Mykolajiw mit ihrer älteren Mutter und ihrem sechsjährigen Sohn. Fast vier Jahre später leben sie von rund 2’200 moldauischen Lei pro Monat – etwa CHF 110 für drei Personen.

„Wir heizen unsere Wohnung nur kurz, gerade so viel, dass die Kälte etwas nachlässt“, erzählt sie. Ihre Erdgeschosswohnung ist besonders kalt und feucht. Als sie Winterhilfe erhielt – Decken, Reinigungsmittel, Hygieneartikel – war sie dankbar, sagte aber auch: Es brauche dringend mehr Unterstützung.

Genau das treibt das Team von Deutschlander an, auch wenn die Mittel schrumpfen.

„Alle, die für UNHCR arbeiten, tun das, weil sie Menschen in Not helfen wollen“, sagt sie. „Wir haben wirklich das Gefühl, dass wir Menschen im Stich lassen, die so sehr auf uns zählen.“

Ihr Team bleibt dem UNHCR-Motto verpflichtet: vor Ort bleiben und Hilfe leisten. Sie werden nicht einfach ihre Koffer packen und abreisen. Aber mit weniger Ressourcen muss auch die Hilfe zurückgefahren werden, genau jetzt, wo der Winter kommt und die Bedürfnisse steigen. 

„Wir sind alle Menschen, und die Menschen, die vom Krieg betroffen sind, haben sich das nicht ausgesucht“, sagt sie. „Ich denke, wir haben die Pflicht, anderen zu helfen.“

UNHCR, die UN-Flüchtlingsorganisation, schützt Menschen, die wegen Konflikten und Verfolgung fliehen müssen. Wir arbeiten in über 130 Ländern, retten Leben, schützen Rechte und helfen Menschen, eine bessere Zukunft aufzubauen.

Häufig gestellte Fragen (FAQ)

Wie viele ukrainische Flüchtlinge leben in Moldau?

Über 130’000 ukrainische Flüchtlinge leben derzeit in Moldau. 64% sind Frauen und Mädchen, fast die Hälfte sind Kinder, und jede dritte Person ist älter oder hat eine Behinderung.

Mit welchen Herausforderungen kämpfen Flüchtlinge im Winter in Moldau?

Mit einem durchschnittlichen Einkommen von nur 55 Euro (CHF 48) müssen vulnerable Flüchtlinge zwischen Heizung, Nahrung und anderen Grundbedürfnissen wählen. Viele können sich ausreichende Heizung, warme Kleidung oder Decken nicht leisten.

Wie unterstützt UNHCR ukrainische Flüchtlinge in Moldau?

UNHCR bietet Bargeldhilfe, Winterhilfepakete mit Decken und warmer Kleidung, Reparaturen und Installationen von Heizgeräten sowie Notfallunterstützung. Seit 2022 hat das Programm über 135’000 Flüchtlingen geholfen und rund 200 Millionen US-Dollar ausbezahlt.

Warum steht UNHCR vor finanziellen Herausforderungen?

UNHCR erlebt die schwerste Finanzkrise seiner Geschichte. Einige zugesagte Gelder sind nicht eingetroffen, andere haben sich reduziert. Gleichzeitig wachsen die globalen humanitären Bedürfnisse weiter.

Wie können Menschen in der Schweiz ukrainischen Flüchtlingen in Moldau helfen?

Spenden in jeder Höhe machen einen Unterschied: 

  • CHF 14 für Decken und Solarlampen 

  • CHF 40 für Wärme im Winter 

  • CHF 120 für die grundlegenden monatlichen Bedürfnisse eines Haushalts 

Auch das Weitertragen von Informationen hilft, Unterstützung aufrechtzuerhalten.